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Reichstagsdebatte: Erzberger attackiert Bülow und lobt Dernburg

Freiburger Zeitung, 02.12.1906, 2. Blatt, 1. Seite

Der Reichstag und die Kolonien.

Berlin, 30. November. Die Kolonialdebatte wurde heute fortgesetzt. Das Hauptereignis heute war die Rede des Abg. Erzberger. Vorher aber kamen zwei andere Redner zu Wort. Zunächst sprach der Abg. Lattmann von der Wirtschaftl. Vereinigung: Es ist endlich einmal Zeit, einen Strich unter die Kolonialereignisse zu machen. Deshalb ist zu bedauern, daß der Reichskanzler in seiner Rede wieder auf einen Einzelfall eingegangen ist. Der Redner geht auf das Verhalten der Regierung während des südwestafrikanischen Aufstandes ein. Die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Kolonien ist das Ziel, nach dem wir streben müssen. Ein festes Kolonialprogramm halten auch wir für dringend notwendig. Besonders zu begrüßen sei es, nach der Rede des Reichskanzlers zu urteilen, daß die verbündeten Regierungen der Kolonialpolitik wesentlich mehr Bedeutung beimessen als früher. Hoffentlich steige auch das Verständnis für die Kolonien in unserem Volke. (Beifall.)

Abg. Schrader (freis. Ver.): Die bisherigen Zustände in der Kolonialabteilung, die zwar immer vorzügliche Menschen, aber stets nicht geschulte, unbrauchbare Verwaltungsbeamte an ihrer Spitze gehabt habe, haben zur Planlosigkeit und nicht genügend energischer Tätigkeit geführt. Aus diesem Grunde freuen wir uns über den Umschwung und bieten einer vernünftigen Kolonialpolitik gerne die Hand. Eine finanzielle und Verwaltungsselbständigkeit der Kolonien sei anzustreben, ebenso wie die Schaffung eines Kolonialrechtes.

Nun kam der Abgeordnete Erzberger (Ztr.). Kaum hatte er die Rednertribüne betreten, als von allen Türen die Abgeordneten hereinströmten, von deren Anwesenheit im Hause man keine Ahnung hatte. In kurzer Zeit war der Saal, der vorher nur zu einem Viertel besetzt war, fast ganz gefüllt. Abg. Erzberger fing mit einer scharfen Kritik der letzten Rede des Reichskanzlers an: so ungeschickt wie am vorigen Mittwoch habe Fürst Bülow noch niemals gesprochen. Die Höhenpunkte der Rede, welcher das ganze In- und Ausland mit Spannung entgegensah, seien die Fälle des Subalternbeamten Poeplau und die Generalanschuldigung gegen die Presse gewesen. Sodann wies der Zentrumsredner eine Reihe von Angriffen zurück, welche im Laufe der Debatte aus dem Hause gegen ihn gerichtet wurden, insbesondere verwahrte er sich mit Entschiedenheit gegen die Anschuldigung, das treibende Motiv für seine Enthüllung der Mißstände in der Kolonialverwaltung sei die grundsätzliche Gegnerschaft gegen jede Kolonialpolitik. Er stellte fest, dass er unentwegt das koloniale Programm der Zentrumspartei vertrete. Mit Worten warmer Anerkennung begrüßte Erzberger den neuen Leiter der Kolonialabteilung. Schon äußerlich gebe sich der neue Kurs zu erkennen dadurch, daß der „neue Herr“ mit vollständig neuem Personal im Reichstage erschienen sei. Auch die Art seiner Einführung im Reichstage sei sehr glücklich gewesen. Man habe aus seinem ganzen Auftreten die Gewißheit genommen, daß man an der Spitze der Kolonialabteilung endlich auch einmal eine intelligente Kraft besitze, einen Kaufmann, der gegen alles unkaufmännische mit goldener Rücksichtslosigkeit vorgehen werde. Nach dieser verbindlichen Einleitung ging Erzberger zu einer umfangreichen, eingehenden Kritik der früheren Kolonialverwaltung über. Indem er zunächst die Fälle Tippelskirch, Wörmann und Oranien-Apotheke einer eingehenden Besprechung unterzog, brachte er dann eine Reihe angeblicher Mißstände in der Verwaltung der Kolonien selbst zur Sprache.

Nachdem Erzberger geredet hatte, gab Reichsschatzsekretär v. Stengel auf eine Anfrage des Vorredners die Erklärung ab, daß die Regelung der Etatüberschreitungen für die Unterhaltungen der Truppen in Südwestafrika, die voraussichtlich einen sehr hohen Betrag erreichen würden, durch ein besonderes Gesetz erfolgen werde und daß die Mittel zur Deckung des Fonds der Reichshauptkasse zu entnehmen seien.

Dann ergriff der Kolonialdirektor Dernburg das Wort zu einer längeren Erwiderung auf die Anfragen verschiedener Redner. Er begann damit, dem Hause seine Anerkennung dafür auszusprechen, daß während der Debatte alles und jedes persönliche Element, insbesondere die Nennung von Namen von Beamten vermieden wurde. Besonderen Dank schulde er dem Abgeordneten Erzberger, der ihm das in seinen Händen befindliche Anklagematerial gegen die Beamten bereitwilligst zur Verfügung gestellt habe. Leider hätten 2 andere (Ledebour und Ablaß) Abgeordneten der gleichen Bitte nicht entsprochen. Nur wenn ihm Beweismaterial zur Verfügung gestellt werde, könne er gegen schuldige Beamten vorgehen. Die Ernennung einer besonderen Untersuchungskommission, bestehend aus einem Staatsanwalt und zwei Richtern, sei deshalb erfolgt, weil das Kolonialamt schon derartig mit der Erledigung der laufenden Aufgaben in Anspruch genommen war, daß er diese Untersuchungen nicht hätte bewältigen können. Das Budgetrecht des Reichstags will Dernburg stets wahren. Weiterberatung am Samstag vorm. 11 Uhr

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