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Der bewegte koloniale Blick - »Ansichten« über frühe deutsche Filme aus den Kolonien

von Wolfgang Fuhrmann*

*Wolfgang Fuhrmann ist Medienwissenschaftler und hat 2003 an der Universität Utrecht über die Geschichte der deutschen Kolonialkinematographie promoviert.

Bereits in den letzten vier iz3w-Ausgaben beschäftigten wir uns intensiv mit dem Deutschen Kolonialismus und seinen Auswirkungen in der Gegenwart. In einer losen Reihe wollen wir zukünftig insbesondere die kulturellen Hinterlassenschaften deutscher Kolonialherrschaft in der Literatur, im Film, in der Architektur und in anderen Bereichen thematisieren. In diesem Heft** widmet sich unser Autor Wolfgang Fuhrmann den frühen Filmen aus den und über die Deutschen Kolonien. Anders als bei späteren Kolonialspielfilmen und Propagandastreifen, die vor allem die Verluste der Kolonien im Ersten Weltkrieg ideologisch zu kompensieren versuchten, waren die filmischen Mittel dieser frühen, nicht-fiktionalen Filme denkbar einfach. Dennoch vermochten auch sie die Unterwerfungsgelüste und exotistischen Sehnsüchte des deutschen Publikums subtil zu mobilisieren. Fuhrmanns Spurensuche ist somit auch ein Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Rassismus in Deutschland.

Der bewegte koloniale Blick - »Ansichten« über frühe deutsche Filme aus den Kolonien

von Wolfgang Fuhrmann

Die Expansionspolitik der europäischen Kolonialmächte zu Beginn des letzten Jahrhunderts hatte eine Infrastruktur geschaffen, die schon den ersten Filmzuschauern erlaubte, auch die entferntesten Länder und ihre Bewohner vom Kinosessel aus zu bereisen. Zu einer Zeit, in der fast 85 Prozent der Erdoberfläche unter den Kolonialmächten aufgeteilt war, bedeutete das Sehen von Filmen aus fremden Ländern zumeist, eigene oder fremde koloniale Territorien zu betrachten. Da Kolonialismus nicht allein auf rationalem Kalkül beruhte, sondern ebenso auf Abenteuerlust, Entdeckerdrang und Eroberungswillen (siehe dazu: Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien. Vierte Auflage. Paderborn, 1995, S. 25), wäre es aber falsch, die Filme aus den Kolonien ausschließlich vor dem Hintergrund ihrer kolonialpolitischen, propagandistischen Bedeutung zu untersuchen. Anfang des 20. Jahrhunderts war der Film selbst eine Attraktion, der die Welt zum Greifen nahe erschienen ließ und die Neugier und Schaulust seines Publikums auf die Welt als visuelles Spektakel befriedigte.

Filmhistorische Spuren des Deutschen Kolonialismus lassen sich allerdings nur schwer finden und noch schwerer »lesen«. Nur sehr wenige Filme aus der aktiven Kolonialzeit bis 1918 sind heute in den Archiven aufzuspüren. Darüber hinaus erscheinen Filme aus der Frühzeit der Kinematographie aus heutiger Sicht generell als »primitiv« und ästhetisch uninteressant. Andererseits ermöglichen gerade sie Erkenntnisse über die Praxis des »Blicks« als Grundlage der modernen Welt (siehe Tom Gunning: Vor dem Dokumentarfilm. Frühe non-fiction-Filme und die Ästhetik der ‘Ansicht’. In: KINtop, vol. 4/1995, S. 120).

Unverhüllte Zurschaustellung

Die geläufigste Filmform im frühen Kino, ferne Länder, Kontinente und deren Bewohner abzubilden, war das so genannte Reisebild. Es setzte sich aus verschiedenen Ansichten eines Ortes oder einer Region zusammen. Reisebilder folgen keiner rhetorischen und diskursiven Form, wie sie vom heutigen Dokumentarfilm bekannt sind, sondern einer Ästhetik der Attraktion und »Ansicht«, die auf dem Akt des Schauens selbst basierte. Eine solche Ansicht musste nicht unbedingt für die Kamera inszeniert sein. Ihr Reiz bestand in der Eigenschaft der Kamera, als Forscher, Tourist oder Betrachter aufzutreten. Die Ideologie früher Filme liegt somit nicht in einer durch die Filmmontage erzeugten »Message«, sondern in ihrer unverhüllten Zurschaustellung des Aufgenommenen.

Bereits die ersten Filme aus den Kolonien waren von Schaulust, Tourismus und Patriotismus geprägt. Bei ihnen handelte es sich aber keineswegs um Auftragsarbeiten der deutschen Regierung, sondern um Aufnahmen eines filmbegeisterten Amateurs, der es verstand, seine privaten Interessen mit denen der deutschen Kolonialbewegung in Einklang zu bringen. Der Altenburger Brauereibesitzer Carl Friedrich Müller (1868-1935) hatte bei seiner Reise durch die deutschen Kolonien in Afrika zahlreiche Aufnahmen gemacht. Seine Filme erscheinen aus heutiger Sicht als eine Aneinanderreihung kolonialer Diskurse, die sich bis auf wenige Ausnahmen kaum von denen heutiger »Reisemagazine« im Fernsehen unterscheiden: Fortschritt und kulturmissionarischen Eifer, militärische- und wirtschaftliche Zurschaustellung, Rassentrennung, Architektur, Panoramablicke, Unterhaltung etc.

Über die Premiere der Müller-Filme am 10. April 1905 im Deutschen Kolonialmuseum in Berlin schrieb die Presse: »Diese meist vorzüglich gelungenen Aufnahmen geben ein überraschend anschauliches Bild der Verhältnisse in unseren afrikanischen Kolonien und bilden auch für sich betrachtet eine so interessante Augenweide, daß der Besuch der Vorführung durchaus empfohlen werden kann. (..) Weiter führt die Reise über Bagamoyo nach Daressalam, dem Hauptplatz der Kolonie. Man ist überrascht von der Entwicklung dieses Ortes. Schöne, ganz europäische moderne Bauten, Kirchen und öffentliche Gebäude, herrliche Palmenstraße und fesselnden Szenen aus dem Leben und Treiben des Ortes werden gezeigt, meist in trefflichen bewegten Bildern: Marktszenen, militärische Übungen mit Gefechtsexerzitien und einem tadellosen Parademarsche der schwarzen Garnison, zur Weide gehende Rinder- und Ziegenherden, die Negerküche des Hotels. Ganz andere Eindrücke gewähren die nun folgenden Bilder aus Südwestafrika: Swakopmund und Lüderitzbucht. Die öde Natur dieser von wilder Brandung bespülten Sandküsten wird belebt durch die kriegerische Staffage, wie der Aufstand der Herero und Hottentotten sie heraufbeschwor. Man sieht, wie ein reger Verkehr in den Straßen von Swakopmund nur möglich ist mit Hilfe von Schienengleisen (...) Prachtvoll sind die kinematographischen Aufnahmen des wogenden Meeres, der auf den Wellen tanzende Dampfer und Boote, die sich durch die Brandung hindurch arbeiten, höchst unterhaltend die bewegten Szenen an Bord der ladenden und löschenden Schiffe, die harmlosen Balgereien unserer Schutztruppler und andere Genrebilder.« (Vossische Zeitung 12.4.1905)

Gegen die Kolonialmüdigkeit

Müllers Filme gelangten allerdings nicht in die deutschen Kinos, sondern wurden ausschließlich in Müllers Heimatstadt und in den im gesamten Kaiserreich vertretenen Abteilungen der einflussreichsten kolonialen pressure group des Kaiserreiches, der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG), gezeigt. Die unterschiedliche Auswertung der Filme auf lokaler und nationaler Ebene diente dabei sehr unterschiedlichen Zwecken. Im lokalen Altenburger Aufführungskontext war das Reisemotiv die eigentliche Attraktion. Nicht der Besuch der deutschen Kolonien, sondern die Umschiffung Afrikas durch einen Altenburger Bürger war die Sensation. Müller konnte mit seinen Filmen, die er in seinem eigenen Freiluft-Kino mit der Ankündigung »Meine Afrika Reise von Neapel bis Kapstadt« vorführte, seiner Kundschaft ein einzigartiges Programm bieten, das selbst von Berliner Kinos nicht überboten werden konnte.

Ihren kolonialpolitischen Charakter entfalteten seine Filme dagegen in den Aufführungen in der Kolonialbewegung. Für die DKG boten die Filme eine willkommene Gelegenheit, ein positives Kolonialbild zu entwerfen. »Bewegte Bilder« aus den Kolonien konnten zu keinem besseren Zeitpunkt der Öffentlichkeit präsentiert werden als in den Jahren ab 1905, denn der anfängliche Kolonialenthusiasmus war inzwischen einer tiefen Ernüchterung gewichen. Revolten und Kriege, Vettern- und Misswirtschaft, Berichte über sadistische Exzesse an der afrikanischen Bevölkerung und Willkürherrschaft prägten das Bild der Kolonien in der deutschen Öffentlichkeit. Sie rückten den Nutzen des kolonialen Besitzes in ein zweifelhaftes Licht. Im Reichstag sprach man offen von der »Kolonialmüdigkeit« des Volkes, und der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht brachte die Ergebnisse deutscher Kolonialpolitik auf die kurze Formel: »Mord, Raub, Totschlag, Syphilis und Schnaps«.

Aus der Vielzahl der überlieferten Rezensionen lässt sich schließen, dass sich Müllers Filme aus den Kolonien, wie auch alle späteren Produktionen, ein wesentliches Merkmal mit der populären Kolonialliteratur teilten: sie waren eine ‘Projektionsfläche’, auf der sich wirtschaftliche Interessen mit nationalem Pathos und einem neuen touristischen Sehvergnügen verbanden. Im Gegensatz zur Photographie, die zwar ein exaktes Abbild, aber letztlich nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit reproduzieren konnte, war das bewegte Bild in der Lage, ganze Handlungsabläufe wiederzugeben und sie in Zeit und Raum zu kontextualisieren. Beim Film hatte der Zuschauer die Gelegenheit, sich mit eigenen Augen ein wirkliches Bild vom Leben und Treiben in den Kolonien zu machen, die es, ganz im Sinne der kolonialen Idee, Wert waren, verteidigt und besiedelt zu werden. Damit bot der Film die Möglichkeit, einen wesentlichen Aspekt der Kolonisation darzustellen, wie sie keine noch so perfekt durchgeführte Kolonialschau mit ihren Statistiken, Schaubildern und Tafeln bieten konnte. Die in den Besprechungen der Filmvorführungen wiederholt hervorgehobenen wirtschaftlichen Leistungen und Erträge in den Kolonien wurden mittels des Films sinnlich erfahrbar.

Deutsche Eigenart

Das Fremde und Exotische als visuelles Spektakel war zwar ein wesentlicher Bestandteil von Filmen aus den Kolonien. Doch ihr Reiz resultierte nicht ausschließlich aus einer inszenierten Differenz, die typisch für das frühe Reisebild ist. Nicht allein das Fremde, sondern auch die eigene Identität wurde in den Aufnahmen gesucht und, wie die damaligen Rezensionen zeigen, auch gefunden. Ansichten der »schönen europäischen Bauten«, der »höchst sauberen Straßen« oder einer »modernen Plakatsäule« im Straßenbild von Swakopmund verweisen darauf, dass es ebenso wichtig war, in den Kolonien die Erweiterung des kulturellen und urbanen Raumes des Mutterlandes wiederzuerkennen und zu sehen, »wie die Pioniere des Deutschtums dort drüben langsam aber sicher Land und Leuten den Stempel deutscher Eigenart aufdrücken« (so das Darmstädter Tageblatt am 16.3.1908).

Der Schwerpunkt auf die »zivilisatorischen Errungenschaften« schloss Darstellungen der kolonisierten Bevölkerung nicht aus. Die Filmtitel und Filmbesprechungen in der Fachpresse lassen dabei jedoch keinen Zweifel am Rassismus der Filme aus dem kolonialen Afrika. Streifen wie DIE WILDEN BEIM EISENBAHNBAU ( Raleigh & Roberts 1907) und DIE WILDEN BEIM BRÜCKENBAU (Raleigh & Roberts 1908) führten dem Publikum vor, für welche Art von Arbeit die Kolonisierten geeignet zu sein schienen. Die oft bemängelte »Faulheit« des Schwarzen war nur eine Frage des »festen Willens und der Disziplin des Kolonialherren«, wie die Filmzeitschrift Der Kinematograph feststellte: »Ferner muss man bedenken, dass man nichts weiter zur Verfügung hat, als schwarze Arbeitskräfte, die die Natur zu ganz etwas anderem bestimmt hat, als zum Eisenbahnlegen.[...] Wie sich jedoch nach den ersten Versuchen erwiesen hat, eignen sich dieselben ganz ausgezeichnet zu den zu vollziehenden Arbeiten und führen dieselben mit einer Geschicklichkeit aus, die der unserer weissen Arbeiter nichts nachgibt. (...) Ein Meile Schienen gelegt in einer Stunde, man bedenke was das bedeutet! Das ist enorm! Man kann sich beglückwünschen zu solchem Arbeitsmaterial wie die Schwarzen!« (Der Kinematograph, Nr. 6, 10.2.1907)

Filme mit Aufnahmen von zur Arbeit »disziplinierter« afrikanischer Arbeiter machten Ausbeutung und Rassismus jedoch nicht allein auf der Ebene der Darstellung sichtbar. Wie eine Besprechung von Müllers Filmvorführung im November 1905 in Stuttgart zeigt, konnte der Rassismus auch durch die Aufführungspraxis und deren Rezeption produziert werden: »Zuerst war man erstaunt über die große Geschäftigkeit, die die Schwarzen bei ihrer Arbeit entwickelten und fragte sich, ob sie am Ende dem Kinematographen und ihrem guten Ruf in Europa zuliebe ihr traditionelles Phlegma auf kurze Zeit überwunden haben. Bald kam man jedoch drauf, dass nur das beschleunigte Tempo, in dem die Filme abliefen, diese rege Betriebsamkeit vortäuschte.« (Schwäbische Chronik 4.11.1905). Schon in der Frühzeit der Kinematographie hatte man keine Chance gegen die Macht des Mediums. Auch der tüchtigste afrikanische »Untertan« wurde zu einem phlegmatischen Taugenichts, der das vorgefasste Weltbild der kolonialen Zuschauer bestätigte.

Erniedrigung und Horror

Die filmischen Reisebilder schufen idealtypische Orte für die Leinwand. In ihrem Bemühen, pittoreske Ansichten immer wieder aufs Neue zu komponieren, konnten selbst blutige Ereignisse wie der Hererokrieg von hohem Attraktionswert sein. Postkartenmotive aus den südwestafrikanischen Konzentrationslagern belegen, dass Filmemacher wie Müller Zutritt zu den Lagern hatten, um dort Aufnahmen zu machen. Der »Attraktionswert« der so entstandenen Bilder von Gefangenen, darunter vieler Kinder, siegte dabei über jegliche ethische Bedenken, wie ein Kommentar in der Altenburger Zeitung für Stadt und Land über eine Aufnahme Müllers aus einem Lager belegt: »Die photographische Aufnahme zeigt (...) 16 Negerbabys verschiedener Größe, von denen sich zwei kleine Burschen hinter einer Nummer der »Altenburger Zeitung« verschanzt haben, um sie zu lesen. Die Aufnahme der kleinen schwarzen Landsleute ist tadellos gelungen. Die Karte wird so manchem vielen Spaß bereiten.« (10.4.1906) Erniedrigung und Horror wird zum »lustigen« Erinnerungs-Schnappschuss für das deutsche Publikum.

Viele filmische Reisebilder im Kontext des Hererokrieges waren gegenüber solchen Postkartenmotiven wesentlich komplexer angelegt, wie ein Filmbeispiel veranschaulicht. SÜDWEST-AFRIKA (Deutsche Bioscope 1907) war eines der ersten Reisebilder, die nach dem Kolonialkrieg die deutschen Leinwände erreichten. Dank der ausführlichen Werbeanzeige für den Film in der Fachpresse erhält man ein sehr genaues Bild über die Anordnung der verschiedenen Ansichten im Film. Sie stehen deutlich unter dem Einfluss des erst kürzlich beendeten Krieges und folgen einer sequenziellen Logik, welche die Kriegsgräuel mildert und den Krieg in einen Prozess des Wiederaufbaus und der Kolonisierung integriert.

Der Film beginnt mit Aufnahmen, in denen die wirtschaftlichen kolonialen Aktivitäten und ihr Terrain im Vordergrund stehen: 1. Arbeiter beim Bau der Eisenbahnschächte bei Aus; 2. Verwaltungsgebäude von Lenz & Co. in Lüderitzbucht; 3. Panorama von Lüderitzbucht, vom Diamantberg aufgenommen. Die folgenden acht Ansichten hingegen zeigen Gefangene der Herero und Nama, der »Hottentotten«: 4. Samuel Isaak, Unterkapitän von Hendrik Witboi; 5. Tanz der gefangenen Hottentottenweiber; 6. Gottesdienst durch den Missionar in Lüderitzbucht; 7. Lager der Hottentotten und gefangene Hereros: 8. Fortsetzung, Lager der Gefangenen in Burenkamp, Lüderitzbucht; 9. Gesamtansicht der Lager; 10. Gefangene Hottentotten- und Hereroweiber, von der Wasserstelle kommend; 11. Die Hauptanführer der Hottentotten: David, Sohn von Isaak – Lazarus von Britannien – Der kleine Jakob – Eduard.; 12. Gruppe der Hauptanführer und die Oberleute. Darauf folgen Aufnahmen, die wieder aus dem Lager hinausführen: 1. Spielende Hottentottenkinder im Gefangenenlager; 14. Panorama von Swakopmund; 15. Leben und Treiben auf der Landungsbrücke; 16. Landungsbrücke, vom Boot aufgenommen; 17. Reede und Brandung in Swakopmund; 18. Einschiffung der Passagiere an Bord von A. Wörmann, Swakopmund (Der Komet, Nr. 1158, 1.6.1907).

Die drei verschiedenen Sequenzen – Lüderitzbucht, Konzentrationslager, Swakopmund – etablieren sehr unterschiedliche Plätze desselben geographischen Ortes. Der Höhepunkt des Films, durch fettgedruckte Buchstaben in der Anzeige deutlich herausgehoben, ist die Aufnahme der »Hauptanführer« der aufständischen Afrikaner. In der Bildabfolge ist diese Hauptattraktion jedoch in einen Bilderfluss integriert, in der die Kolonie nicht länger als von Revolten bedroht präsentiert wird, sondern als ein nunmehr sicheres touristisches Reiseland. Im Gegensatz zu den Aufnahmen vom Lager betonen die Panoramaaufnahmen am Anfang und am Ende des Films geradezu den pittoresken Charakter der Kolonie. Zusammen mit den Bildern der sich ständig verbessernden Infrastruktur, dem Schienensystem im Innern des Landes und der internationalen Schiffsverbindungen an der Küste empfiehlt sich die Kolonie als mögliches nächstes Reiseziel. In seiner Bild-Anordnung ist SÜDWEST-AFRIKA aber auch zugleich ein Beispiel, wie der Kolonialismus Räume konstruierte, in denen die Kolonie und die kolonisierten Einheimischen kontrolliert und verwaltet werden konnten. Indem den Herero und Nama der Raum des Straflagers zugewiesen wird, können ihre Spuren außerhalb des Lagers durch Zeichen der Kolonisation ersetzt werden.

Zwiespältige Lust am Sehen

Die Komposition dieses nur vermeintlich »einfachen« Filmes lässt sich weiter aufschlüsseln. Die Anordnung der verschiedenen Sequenzen gleicht einem erzählerischen Rückblick, mit dem der Zuschauer daran erinnert wird, dass der Krieg erst kürzlich beendet wurde. Die Panoramaaufnahmen am Anfang und am Ende des Films klammern jedoch die Erinnerung an den Krieg ein und lassen die Straflagersequenz als bloße Unterbrechung im Kolonisationsprozess erscheinen. Die Ansichten der Gefangenen werden wiederum von Aufnahmen der Missionierung unterbrochen, was den Schock durch die ersten Lageraufnahmen mildert. Im Gegensatz zur kolonialen Wirklichkeit, in der täglich Menschen in den Lagern verhungerten und starben, stellt der Film das Lager als »Besserungsanstalt« dar, in welcher der »böse« afrikanische Krieger zum christlichen Glauben umerzogen wird.

Das Beispiel SÜDWEST-AFRIKA zeigt, wie selbst die grausamste Periode deutscher Kolonisation ihren Platz in einer Bildabfolge von unaufhaltbarem Fortschritt und touristischem Vergnügen findet. Die menschenverachtende Ideologie des Kolonialismus verträgt sich scheinbar problemlos mit Ansichten der Ferne und Exotik und ihrer ganzen positiv besetzten Assoziationskette von Reiselust, Sehnsucht und Träumerei.

Der Erste Weltkrieg markiert eine filmgeschichtliche Zäsur, die das frühe Kino vom klassischen Kino trennt. Mit der Betonung einer »schöpferischen Behandlung des Aktuellen (der Wirklichkeit)«, wie es der britische Dokumentarfilmer John Grierson in den zwanziger Jahren formulierte, etablierte sich der erzählerische, dramatisierende Dokumentarfilm in den Kinos. Die Dramatisierung aktueller Ereignisse durch Zwischentitel – oder mit Beginn des Tonfilms auch eingesprochenen Kommentaren – erlaubte es, den Blick des Zuschauers gezielt durch den Film zu führen. Damit wurden Filme nicht nur stärker in eine argumentative Form eingebettet, sondern auch zunehmend ideologisch instrumentalisiert. War der Zuschauer im frühen Kino in erster Linie »Entdecker« und »Tourist« in Filmen, deren Bedeutung innerhalb der verschiedenen Aufführungskontexte variieren konnte, so wollte der Dokumentarfilm in seiner »Botschaft« unmissverständlich sein.

Für die Dokumentar-Kolonialfilmproduktion der 1920er Jahre bedeutete das die zunehmende Verklärung der Kolonien zu idealisierten Räumen, wie es etwa in dem Titel DAS SONNENLAND SÜDWEST-AFRIKA aus dem Jahre 1926 zum Ausdruck kommt. In diesem Film wird hauptsächlich das »Deutschtum« und seine Leistungen in der ehemaligen Kolonie vorgestellt. Produktionen wie diese reagierten damit auf den Vorwurf der Alliierten, dass Deutschland auf dem Gebiet der Kolonisierung versagt und kein Recht auf weiteren Kolonialbesitz habe.

Das Kino der Attraktion und Ansicht ist trotz solcher Entwicklungen nicht aus der heutigen Medienlandschaft verschwunden, sondern Teil unserer alltäglichen Film- und Fernseherfahrung. Im Actionfilm oder in den populär-ethnographischen Reise- und Wildlife-Reportagen begegnen wir bis heute den Grundstrukturen des Filmsehens. Wenn frühe koloniale Reisebilder bei uns heute ein Unbehagen auslösen, dann mag ein Grund darin liegen, dass in ihnen »die zwiespältige Machtbeziehung durch den Blick« (ebd., S. 119) bewusst wird. Sollten wir also nicht nur die Bilder hinterfragen, sondern auch unsere Lust am Sehen?

**Dieser Text ist entnommen aus: iz3w Nr. 280 (2004), S. 36-39

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