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Afrika in Berlin - Ein Stadtviertel als postkolonialer Gedächtnisraum

von Alexander Honold*

*Alexander Honold ist Literaturwissenschaftler an der Universität Konstanz. Im Metzler-Verlag erschien das von ihm mitherausgegebene Werk »Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit«.

Zahlreiche Straßennamen wie Kamerun-, Transvaal- oder Lüderitzstraße bezeugen im Afrikanischen Viertel von Berlin-Wedding Deutschlands Kolonialvergangenheit. Der Verlauf der Namensgebungen manifestiert alle Stadien des Deutschen Kolonialismus und der mit ihm verbundenen Vergangenheitspolitik: Besitzansprüche, Nostalgie, Verlustschmerz und ausbleibende kritische Befassung.

Dass Straßennamen Geschichte widerspiegeln, wird oft erst dann reflektiert, wenn es unangenehm wird. Vor allem die Entfernung ‚belasteter’ Personennamen aus dem Stadtbild ist ein Spiegel veränderter Bewertungen. Politisch motivierte Umbenennungen Berliner Straßennamen haben sich im vergangenen Jahrhundert in mehreren Schüben vollzogen: vor allem in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus und nach seinem Zusammenbruch 1945 (wobei das wilhelminische Erbe zumindest im Westteil weitgehend unangetastet blieb), zuletzt im Ostteil nach der Wiedervereinigung 1990. Die jeweils mit einer Straßen-Taufe dokumentierten Ehrungen oder Sinnzuschreibungen sollten im Lichte dramatisch gewandelter Leitvorstellungen wenn schon nicht ungeschehen, so doch in ihren Folgen rückgängig gemacht werden. Tatsächlich gab und gibt es immer wieder Fälle, in denen kompromittierende Benennungen für Anwohner, Besucher oder Kunden eine unzumutbare Hypothek darstellen. Doch ist die Entsorgung oder Übertünchung unangenehmer Spuren häufig erkauft mit einer nachfolgenden »urbanen Amnesie« – mit dem Wegfall störender oder anstößiger Indizien, die eben auch Anstoß zu bohrenden, archäologischen Nachfragen werden könnten.

Als ein solcher Fremdkörper aus längst vergangener Zeit mag heute das Afrikanische Viertel im Berliner Wedding erscheinen (das seit 2001 zum Bezirk »Mitte« gehört). Was ist und wovon erzählt dieses Afrikanische Viertel? Es schließt im Nordwesten Berlins an das weitläufige Grünareal der Jungfernheide an, einer von Dünen- und Waldgebiet durchsetzten Heidelandschaft, deren ursprüngliche Ausmaße seit ihrer Zerstückelung durch den immensen städtischen Verbrauch an Siedlungsraum und Verkehrswegen kaum mehr zu erahnen sind. Weite Teile des Geländes sind dem Bau des Tegeler Flughafens zum Opfer gefallen, andere in der Nazizeit zum Park- und Badegelände »Jungfernheide« umgebaut worden. Am Rande des Parks gelegen, sind auf engstem Raume die Senegalstraße, die Uganda- und die Tangastraße beisammen; folgt man der Transvaalstraße Richtung Norden, trifft man jenseits der Müllerstraße auf die Namen Guinea und Togo. Auch dies ist kein Zufall, denn parallele Straßenzüge heißen Kamerun und Sansibar. Die Hauptader dieses Viertels aber bildet die gut zwei Kilometer lange Afrikanische Straße, die sich als eine Transversale durch das nach ihr benannte Gebiet zieht. Stadteinwärts am Gelände des Rudolf-Virchow-Klinikums beginnend, wird sie an ihrem nordwestliche Ende von der Swakopmunder-, der Mohasi- und der Usambarastraße flankiert.

Fasziniert von »Schutzgebieten«

Die Weddinger Straßennamen sind für die Entwicklung Berlins – und mittelbar auch für die damit verbundene Geschichte des Deutschen Reiches – ein aussagekräftiger Indikator. Eine Fülle an Spuren (die dem Stadtbild meistens in viel unauffälligerer Form einverwoben sind als die exotischen Namen des Afrikanischen Viertels) warten darauf, als siedlungsgeschichtlicher Subtext des Weges in die Moderne entziffert zu werden. Dorf und Gut »Wedding« bei Berlin, seit dem 13. Jahrhundert nachgewiesen, wurden erst im 18. Jahrhundert zum Mittelpunkt einer größeren Ansiedlung. Durch den Flächenbedarf beim Ausbau industrieller Anlagen wurde der inzwischen von Berlin eingemeindete Bezirk vom wirtschaftlich-technischen Modernisierungsschub der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasst. Aus dem Gebiet des ehemaligen Gutshofes war ein dicht besiedeltes städtisches Arbeiterviertel geworden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden neue Straßenzüge angelegt, bald auch ganze Wohnviertel zusammenhängend geplant und erschlossen. Dabei setzte sich eine gewisse Kohärenz in der Namenswahl zusammenhängender Straßengebiete durch.

So entstand in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts die Idee zu einer systematischen Benennung des neu erschlossenen Viertels. Erste Vorläufer des späteren Afrikanischen Viertels hatte es schon zur Jahrhundertwende gegeben: im Jahr 1899 erfolgte die Vergabe der Togostraße und der Kameruner Straße. Diese Benennungen waren eine Folge der vor allem durch die »Erste deutsche Kolonialausstellung« 1896 in Berlin entfachten Faszination für die afrikanischen Schutzgebiete des Reiches. Zu der spektakulären Leistungsschau auf dem Gelände des Treptower Parks waren damals hundert Afrikaner nach Berlin gebracht worden, die als lebende Staffage der inszenierten exotischen Baulichkeiten dienten und für folkloristische Vorführungen eingesetzt wurden. Die Ausgestellten entstammten den verschiedenen Regionen und Ethnien Afrikas, in denen Deutschland Kolonien für sich reklamiert hatte. Die drei größten Gruppen waren aus Kamerun, Togo und aus Deutsch-Ostafrika. Ebenfalls aus Ostafrika kamen einige Massai, aus Deutsch-Südwest jeweils eine kleinere Anzahl von Herero und Khoikhoi. Drei der Afrikaner verstarben während der Kolonialausstellung in der Berliner Charité.

Schon früher waren Menschen fremder Ethnien und besonders die Bewohner überseeischer Gebiete für Kuriositäten-Kabinette und Völkerschauen nach Europa gebracht worden. Die für Ausstellungszwecke eingeführten Afrikaner waren indes nicht die einzigen, die aus den Kolonialgebieten nach Deutschland und vor allem in die Reichshauptstadt kamen. Einige hatten als Schiffsstewards angeheuert oder waren als privates Dienstpersonal nach Deutschland verbracht worden. Manche erhielten die Möglichkeit, in Deutschland eine Schul- oder Berufsausbildung zu machen oder wurden zu wissenschaftlichen Zwecken angestellt, wie Mtoro Bakari, der im April 1900 als Lektor am Institut für Orientalische Sprachen zu unterrichten begann.

Das Seminar für Orientalische Sprachen blieb bis in die zwanziger Jahre hinein für die sprachlich-kulturelle Ausbildung des Verwaltungspersonals und der wirtschaftlichen Kräfte für die Kolonien zuständig. Schon im Gefolge der Berliner Afrika-Konferenz der Jahre 1884 und 1885 hatte die »koloniale Frage« in der Reichshauptstadt durch die Gründung einschlägiger Einrichtungen und Verbände ihren Ausdruck gefunden. Neben dem Sprachen-Institut sind hier

vor allem die 1888 gegründete Deutsche Kolonialgesellschaft zu nennen, die zwei Jahre später erfolgte Einrichtung der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, die bereits erwähnte Kolonialausstellung des Jahres1896 und schließlich die Einrichtung des Deutschen Kolonial-Museums im Bezirk Tiergarten; später folgten Kolonialbank und -börse. Insofern war es nur folgerichtig, wenn das deutsche Kolonialengagement auch durch afrikanische Namen – nach der kolonialen Logik: die Abzeichen neuerworbener deutscher Schutzgebiete – im Stadtbild der Reichshauptstadt präsent war.

Inszenierung der Afromanie

Als am Rande des Weddinger Parkgeländes um die Jahrhundertwende neue Straßenzüge erschlossen und allmählich bebaut wurden, konnten sich nach dem Präzedenzfall der Kamerun- und der Togostraße (die beiden Länder hatten auch realhistorisch im Jahr 1884 die ersten offiziell proklamierten deutschen Kolonien gebildet) weitere afrikanische Länder im Stadtbild verewigt finden. Der eigentliche Boom des Afrikanischen Viertels aber wurde ausgelöst durch die Berliner Pläne des Hamburger Tierhändlers und Völkerschau-Impresarios Carl Hagenbeck. Nach dem großen Erfolg seines Hamburger Tierschaugeländes und seiner reisenden Völkerschauen entwickelte Hagenbeck das Projekt, in der Dünenlandschaft der bei Wedding gelegenen Rehberge ein großes Freigelände zu errichten, in dem wilde Tiere und exotische Völkerschaften in einer Dauerausstellung präsentiert werden sollten. Diese Pläne zum Bau eines Weddinger Exotik-Parks konkretisierten sich soweit, dass dafür bereits ein eigenes Gelände ausgewiesen und dessen Erschließung in die Wege geleitet wurde. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch machte diesen Absichten ebenso ein Ende wie vorläufig auch einer weiteren Bebauung des nördlich der Seestraße gelegenen Siedlungsareals.

Doch zu dieser Zeit hatte bereits eine erkennbar ‚kolonialkulturelle’ Ausrichtung des Viertels stattgefunden – durch eine ganze Serie afrikanischer Namen. Spätestens mit der Anlage der quer durch das gesamte Areal verlaufenden »Afrikanischen Straße« im Jahr 1906 wurde der Anspruch dokumentiert, dem kolonialen Engagement des Reiches ein städtebauliches Denkmal zu setzen. Hatten zuvor die Lüderitz- (1902) und die Guinea-Straße (1903) an die zuerst verliehenen Kolonialnamen Kamerun und Togo angeknüpft, so folgten dem Vorbild und dem topographischen Verlauf der Afrikanischen Straße in immer kürzeren Zeitabständen weitere einschlägige Benen-nungen. 1907 wurde die Transvaalstraße ausgezeichnet, 1910 folgten der Nachtigalplatz, die Windhuker Straße, die Swakopmunder Straße; bis 1914 kamen die Otawistraße, die Kongostraße und die Sansibarstraße hinzu. Nach dem Einschnitt der Kriegsjahre und der ersten Inflationszeit setzte Mitte der zwanziger Jahre wieder eine intensivere Bautätigkeit vor allem nördlich der Seestraße ein, wo entlang der Afrikanischen Straße bis 1931 ungefähr 4.000 Neubauwohnungen entstanden, darunter die kubischen Wohnhäuser Mies van der Rohes. 1927 brachte ein neuer Benennungsschub die Straßennamen Duala, Tanga, Sambesi und Uganda hervor. Die Weddinger Namensschilder evozierten mit ihrer programmatisch ausgerichteten Semantik den ‚dunklen Kontinent’ in einer sonst kaum erreichten Dichte und Kohärenz. Für glossierende Darstellungen, in der lokalen Presse wie auch im Berliner Volksmund, eröffnete sich mit der afrikanischen Dimension des Bezirkes ein reiches karikaturistisches Betätigungsfeld. Despektierliche, aber auch positive Identitätsmerkmale knüpften sich an diese mit ihrer betonten Afromanie in Deutschland einzigartige topographische Inszenierung. Insgesamt wurden zwischen 1899 und 1958 im Wedding 25 Straßen nach afrikanischen Ländern, Städten und Flüssen, nach deutschen Kolonialstützpunkten (Otawi, Swakopmund, Tanga, Windhuk) und kolonialistischen Akteuren (Bastian, Lüderitz, Nachtigal, Peters) benannt.

Ergänzt wurden diese expliziten Referenzen durch weitere, nicht im unmittelbaren deutschen Herrschaftsbereich liegende Orts- und Landesnamen, die bei der kolonialen Aufteilung des Kontinents eine Schlüsselbedeutung hatten, wie 1912 die Kongostraße (der Hauptschauplatz des belgischen Kolonialismus) oder die Sansibarstraße. Die 1885 vom Deutschen Reich annektierte Insel Sansibar war bereits fünf Jahre später im Tausch gegen Helgoland an Großbritannien abgegeben worden. Die Guineastraße erinnerte an jenen Gebietsstreit, bei dem die Hauptstadt des Deutschen Reiches zunächst als vermittelnder Akteur im Konzert imperialer Kolonialmächte aufgetreten war. Zwischen den Interessen Frankreichs in Oberguinea und dem portugiesisch besetzten Niederguinea wurde auf der »Berliner Konferenz« von 1884 ein von beiden Seiten akzeptierter Grenzverlauf ausgehandelt. Zugleich aber markierten die Guinea-Verhandlungen den Eintritt Deutschlands in den Wettlauf um die Verteilung Afrikas. Dass in Berlin nicht nur die politischen Fäden der Kolonialherrschaft zusammenliefen, sondern vor allem jene wirtschaftliche Prosperität, die sich den unter Gewalteinsatz abgeschöpften Ressourcen afrikanischer Gebiete verdankte, ist am Beispiel der 1911 so benannten Mohasistraße zu belegen. Nach dem gleichnamigen Ort im nördlichen Teil Deutsch-Südwestafrikas hatte sich im Jahre 1900 die Otawi-Minen- und Eisenberggesellschaft mit Sitz in Berlin konstituiert, deren Ziel die Ausbeutung der in großem Maße vorhandenen Bodenschätze dieser Region war.

Deutsche Phantomschmerzen

Auch an andere Einsatzorte des Deutschen Kolonialismus erinnern manche Namen im Weddinger Afrikanischen Viertel oder in angrenzenden Straßenzügen. So gibt es dort seit 1905 eine Samoastraße, benannt nach den pazifischen Inseln, die zwischen 1899 und 1919 teilweise deutsche Kolonie waren. Zu den fernöstlichen Kolonialschauplätzen führen die Kiautschou-Straße und auch der Peking-Platz; Kiautschou war die Bezirksstadt der chinesischen Provinz Schantung, die 1898 vom Deutschen Reich in Pacht übernommen wurde. Zur Erinnerung an die Kolonialisierung in Tsingtao und zur Glorifizierung der deutschen Intervention im so genannten »Boxeraufstand« tragen außerdem einige Straßennamen im Zehlendorfer Stadtteil Dahlem bei. Dort lässt sich zwischen den Gebäudekomplexen des preußischen Staatsarchivs und der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft heute noch ein Spaziergang unternehmen, der von der Iltisstraße über die Lansstraße in die Takustraße führt. Das Carrée dieser Straßen umreißt mit seinen geschichtsträchtigen Namen eine in sich geschlossene Anekdote aus der Zeit deutscher Weltmachtspolitik: Während des Boxeraufstandes beschoss am 17. Juni 1900 das deutsch-kaiserliche Kanonenboot Iltis unter Leitung des Kapitäns Wilhelm von Lans den befestigten Vorhafen Taku der chinesischen Stadt Tientsin – und drei Straßennamen im fernen Berlin künden bis heute davon.

Obwohl das offizielle kolonialpolitische Engagement des Reiches nach der militärischen Niederlage von 1918 mit dem Verlust der Kolonien beendet war, wurde insbesondere Afrika als territorialer Schwerpunkt des deutschen Kolonialismus weiterhin mit einschlägigen Ehrungen bedacht, die nun als Reminiszenzen zu verstehen waren. Im Straßenbild der Hauptstadt war der Kontinent mit Stadt, Land und Fluss in den zwanziger Jahren präsenter denn je. Wie um die Unabhängigkeit des Weddinger Afrikanischen Viertels von den primär politischen Dimensionen der deutschen Kolonialgeschichte zu demonstrieren, setzten der Bezirk selbst und auch die Berliner Stadtverwaltung in der Weimarer Republik bis in die dreißiger Jahre bei Namensgebungen bevorzugt geographische und ethnologische Afrika-Referenzen durch (wie 1927 den Fluss Sambesi und die Duala, zehn Jahre später die Damara und Mohasi als Gebiets- und Stammesnamen aus dem ehemaligen Kamerun, Deutsch-Südwest und Ostafrika).

Die landschaftlichen und stammesgeschichtlichen Züge des Kontinents sollten in den Vordergrund treten, nicht mehr die ‚deutsche Handschrift’ bei der Erschließung und Eroberung des Territoriums. 1939 dagegen gab die Rehabilitierung des 1897 wegen allzu großer Grausamkeit gegen die Kolonisierten verurteilten Kolonialdespoten Carl Peters (siehe unten) den bei den Straßenbenennungen im Viertel stets mitlaufenden kolonialrevisionistischen Tendenzen unmissverständlichen Ausdruck. Im Jahr des neuerlichen Kriegsbeginns gab sich die memoriale Aufrechterhaltung der afrikanischen Extensionen des früheren Reiches als nachhaltige Kultivierung eines deutsch-kolonialen ‚Phantomschmerzes’ zu erkennen.

Vergegenwärtigte Vergangenheit

Die kulturelle Funktion symbolisch aufgeladener Namensgebungen lässt sich mithilfe des von Etienne François und Hagen Schulze nach dem Vorbild des französischen Historikers Pierre Nora auf Deutschland übertragenen Konzepts der »Erinnerungsorte« näher bestimmen (Deutsche Erinnerungsorte, München 2002). Diesen Überlegungen zufolge sind die kollektiven Gedächtnisinhalte einer Gesellschaft häufig mit realen topographischen Ortserfahrungen verbunden: ein Denkmal, ein Bauwerk oder der Schauplatz eines bestimmten Ereignisses werden mit dem dadurch signalisierten Erinnerungswert eng und dauerhaft verknüpft. Umgekehrt erhalten die solcherart visualisierten Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses eine gleichsam objektivierte, sinnlich erfahrbare und räumlich anzueignende Vergegenwärtigung, die sie dem Alltagsleben integriert und zu dauerhaften Besitzständen der kulturellen Identität werden lässt. Die Anwesenheit dieser Gedächtnisorte im kulturellen Bewusstsein reicht somit meistens weit über den Geltungszeitraum der politisch-ideologischen Zielsetzungen hinaus, denen sie ursprünglich ihre Stiftung zu verdanken hatten.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der deutschlandweit in dieser Form einmalige Fall des Afrikanischen Viertels als herausragender Gedächtnisort der deutschen Kolonialgeschichte in doppelter Weise bestimmen. In der Politik der Namensvergabe spiegelt sich zum einen die politische Absicht, die überseeische Expansion des Reiches in das Weichbild seiner Hauptstadt einzutragen, gleichsam wie in eine symbolische Grundbuch-Topographie. Die Demonstration der afrikanischen ‚Erwerbungen’ und ihre Versammlung auf engstem Raume als urbanes Signifikanten-Material sollte eine Kohärenz und Folgerichtigkeit kolonialen Handelns simulieren, die in dieser strategischen Prägnanz zwar niemals auf der politischen Agenda gestanden hatte – wohl aber auf dem Berliner Stadtplan. Über das Ende der Kolonialzeit hinaus bekunden weitere einschlägige Straßenbenennungen den Impuls, an dieser Vergangenheit zumindest symbolisch festzuhalten und eine melancholische Verlustbilanz einstiger kolonialer Größe zu inszenieren. Andererseits aber ist aus heutiger Sicht das Textgeflecht dieser afrikanischen Straßennamen als eine Art Chronik zu lesen, die entlang der realen Straßentopographie eine Exkursion in weit zurückliegende Dimensionen der kolonialen Vergangenheit zu unternehmen erlaubt.

Der letzte in der Tradition des afrikanischen Viertels stehende Benennungsakt erfolgte am 8. Oktober 1958. Die Namensverleihung an die Ghanastraße ehrte eine Region, die unter dem aus kolonialer Perspektive gebildeten Namen »Goldküste« in der Geschichte europäisch-afrikanischer Beziehungen schon seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle gespielt hatte. Bereits im 17. Jahrhundert hatten an der westafrikanischen Küste englische und dänische Seefahrer erste Handelsstützpunkte gegründet. Zwischen 1683 und 1773 waren auch Brandenburger in der Region präsent. Die östlichen Gebiete der Goldküste wurden Ende des 19. Jahrhunderts Bestandteil der deutschen Kolonie Togo.

Die von der Goldküste kommenden Aschanti erlangten in Europa durch Völkerschauen mit inszeniertem »Dorfleben« eine gewisse Berühmtheit, die sich etwa in Peter Altenbergs gleichnamigen Skizzen aus dem Wiener Prater widerspiegelt oder auch in Franz Kafkas Bericht für eine Akademie, der die Tier- und Menschen- Raubzüge der Hagenbeckschen Exkursionen vor der Goldküste im Schicksal eines vermenschlichten Zirkusaffen anprangert. Dass diese legendäre Goldküste, solcher Konnotationen entledigt, in der spröden Nachkriegsmoderne Ende der fünfziger Jahre unter jenem Namen ins Afrikanische Viertel einzog, mit dem sich das jahrzehntelang durch britisches Völkerbunds-Mandat regierte Land 1957 als Staat endlich unabhängig machen konnte, ist eine kleine – und im Wedding bis heute die einzige – symbolische Konzession an die Epoche der Dekolonialisierung.

Kaum einer der im Wedding durch die Namensverleihungen geehrten Kolonial-Akteure wäre unter heutigen Gesichtspunkten konsensfähig – dennoch sind es die Namen und Taten der Betreffenden scheinbar wert, im kollektiven Gedächtnis der neuen alten deutschen Hauptstadt weiterhin präsent gehalten zu werden. Da ist etwa der Großhändler Adolf Lüderitz, der 1881 eine Niederlassung im westafrikanischen Lagos gegründet hatte. Mit ihm beginnt die Geschichte des deutschen Afrika-Kolonialismus im engeren Sinne; genauer mit den vom Deutschen Reich unternommenen Aktivitäten, die von diesem Kaufmann privat erworbene, später so genannte »Lüderitzbucht« politisch und militärisch abzusichern. Dieser Beschluss wurde zum Ausgangspunkt für das Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika. Eine koloniale Gründungsfigur war auch der Afrikaforscher und Geograph Gustav Nachtigal, der im Sommer 1884 mit dem Kanonenboot Möwe vor der westafrikanischen Küste kreuzend Kamerun und Togo »unter deutschen Schutz« gestellt und damit deren Kolonialstatus eingeleitet hatte.

Hans statt Carl

Die wohl umstrittenste Figur unter den im Afrikanischen Viertel Geehrten aber verbarg sich hinter dem wohlklingenden Namen der Petersallee. Diese Straße erhielt ihren Namen in der NS-Zeit nach dem Kolonialisten Carl Peters. Der fanatische Kolonialaktivist hatte 1884 die »Gesellschaft für deutsche Kolonisation« gegründet und wenig später von Sansibar aus auf eigene Faust zur Eroberung von Ostafrika angesetzt. Nachdem Peters seit 1891 offiziell mit der Erschließung des Kilimandscharo-Gebietes beauftragt war, führte er in den von ihm kontrollierten Landstrichen ein derart grausames Regiment, dass es selbst der deutschen Kolonialverwaltung zuviel wurde. Zwei von Peters willkürlich ausgesprochene und vollstreckte Todesstrafen, die ihm den Spitznamen »Hänge-Peters« eintrugen, führten zur Einsetzung einer Untersuchungskommission und 1896 zu heftigen Debatten im Reichstag, die mit der Entlassung und Verurteilung des selbstherrlich und brutal agierenden Kolonialdespoten endeten. Die von den Nazis ausgesprochene Namensvergabe war demgegenüber eine Geste der bewussten Rehabilitierung.

Grund genug, die nach ihm benannte »Petersallee« umzubenennen, wie von einer Bürgerinitiative mit Unterstützung der Alternativen Liste in der Weddinger Bezirksversammlung 1986 vorgeschlagen? Mitnichten: statt des Namens wurde mit Rücksicht auf die vermuteten oder tatsächlichen Bedürfnisse der Anwohner und ihren »Bestandsschutz« lediglich seine offizielle Bedeutung ausgetauscht. Nicht mehr der grausame Hasardeur aus Deutsch-Ostafrika sollte von nun an der Namenspatron sein, so der 1987 gefasste Beschluss, sondern Hans Peters, seines Zeichens CDU-Stadtverordneter und Mitautor der Berliner Verfassung. Die Distanzierung fiel damit nicht nur halbherzig aus, sie blieb als Geste völlig wirkungslos, denn durch den Kontext der übrigen Benennungspolitik des Afrikanischen Viertels bleibt nicht nur der Signifikant »Peters«, sondern auch dessen ursprünglich gemeinte Bedeutung erhalten.

Während aber Peters-Straßen in Bielefeld, Bonn, Bottrop, Bremen, Essen, Kaiserslautern, Mannheim und München den von den Nazis verherrlichten Kolonialisten kontextfrei als individuelle Persönlichkeit und Abenteurer ehren, bleibt Peters im Wedding – auch wenn er offiziell gar nicht mehr gemeint ist – wenigstens eingebettet in die Geschichte des Deutschen Kolonialismus. Ein Stück Afrika, mitten in Berlin.

Dieser Text ist entnommen aus: iz3w Nr. 278/279 (2004), S. 56ff. (dort in der Reihe "Deutscher Kolonialismus" und mit Bebilderung erschienen).

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