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Rezension

Kleine Geschichte des Kolonialismus

Personen Lokalpresse

Wolfgang Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1996.

Enteignete Kolonialisten

Wohl kein geschichtlicher Prozeß hat das Gesicht unserer Welt so nachhaltig geprägt wie die Errichtung europäischer Kolonialreiche in Amerika, Afrika und Asien, denn erst die europäische Expansion seit dem 15. Jahrhundert hat die vielen Welten der Menschen zu der einen Welt gemacht, in der wir heute leben. Der Freiburger Wissenschaftler Wolfgang Reinhard legt nun nach seiner vierbändigen Geschichte der europäischen Expansion (1983-1990) eine knappe Gesamtübersicht zur europäischen Kolonialgeschichte vor.

Der zeitliche Rahmen, den Reinhard seiner Darstellung setzt, ist sehr breit angelegt: Er reicht von der »Entdeckung« des Atlantiks durch portugiesische und italienische Seefahrer und Kaufleute im 14. Jahrhundert bis zur Dekolonisation in Rußland und Südafrika in den ersten Jahren unseres Jahrzehnts. Diese großzügige zeitliche Dimension ist einem weiten Kolonialismus-Begriff zu verdanken. Denn Reinhards Darstellung beschränkt sich nicht auf die Geschichte europäischer Kolonialreiche in Übersee, sondern bezieht auch Kontinentalimperien wie Rußland und die USA, Sekundärkolonialismus wie in Israel, Südafrika und Australien sowie den nicht-westlichen, aber mit dem europäischen zusammenhängenden Kolonialismus Ägyptens, Japans und sogar Chinas mit ein.

Reinhards Ausführungen weisen einen zweiteiligen Aufbau auf, denn immer wieder wird der berichtend-erzählende, chronologisch fortlaufende Teil von ideologiekritischen Reflexionen des Verfassers unterbrochen, in denen gängige kolonialgeschichtliche Erklärungsmodelle auf ihren Wahrheitsgehalt hin abgeklopft und einige Topoi des antikolonialistischen Diskurses korrigiert werden. Wie Reinhard – um nur ein Beispiel zu nennen – betont, war die europäische Kolonisation meist kein von langer Hand geplantes Unternehmen, sondern lief nach dem »Prinzip der nicht-intendierten Nebenwirkungen ab«, was dem individuellen Handeln der »men on the spot« und ihren persönlichen Antrieben für Kolonisation und Kolonialismus eine große Bedeutung einräumte.

Daß Reinhard sich wiederholt an antikolonialistischen Klischees und Vorurteilen reibt, ist kein Zufall. Ihm geht es in seinem Buch darum, sich dem historischen Phänomen Kolonialismus möglichst wertfrei, ohne gequälte Anstrengungen einer politisch korrekten Ausdeutung und Wertung des historischen Geschehens, anzunähern. So gelangt Reinhard zu dem Schluß, sich mit der europäischen Expansion aus eurozentrischer Perspektive zu beschäftigen, sei geboten, »weil die Sache selbst« – die europäische Durchdringung der nicht-europäischen Welt – »eurozentrisch ist«. Doch gelte dieser Schluß nur für die Europäisierung der Welt als ein historisches – und damit unweigerlich der Vergangenheit angehörendes – Phänomen, nicht aber für die nachkoloniale Gegenwart und Zukunft, weil ja die nicht-europäischen Völker im Begriff sind, das längst angeeignete europäische Erbe weiterzuentwickeln: »Die Rede von der ‘Europäisierung der Erde’ als Inbegriff der Hinterlassenschaft des Kolonialismus ist zwar richtig, aber nur noch im historischen Sinne. (...) wenn heute die englische Sprache immer mehr zum Weltkommunikationsmedium wird, dann stehen dabei längst ein amerikanisches oder australisches, ein indisches oder nigerianisches Englisch gleichberechtigt neben ‘The Queen’s English’. Die Herrschaft des Englischen hat nur noch historisch mit der einstigen Herrschaft Englands zu tun; im Gegenteil, die Dekolonisation hat dazu geführt, daß die Engländer ihrer Sprache enteignet wurden.« (S. 345)

Reinhards Buch besticht also nicht nur wegen seiner – angesichts der Fülle an Fakten bewundernswerten – sprachlichen und gedanklichen Klarheit. Was dieses Buch zu einem bemerkenswerten Exempel zeitgenössischer Geschichtsschreibung macht, ist vor allem die Tatsache, daß es Reinhards problembewußter Darstellung der verschiedensten Einzelaspekte des europäischen Kolonialismus gelingt, bekannte, aber leider oftmals ideologisch verbrämte Sachverhalte neu zu betrachten und kritisch zu hinterfragen.

Gunther Verheyen

Diese Rezension ist zuerst erschienen in: iz3w Nr. 224 / 1997, S. 48

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