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siehe auch:

Aukongo, Stefanie-Lahya: Kalungas Kind. Wie die DDR mein Leben rettete (2009) Zur Rezension

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lucia Engombe: Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odyssee. Aufgezeichnet von Peter Hilliges. Ullsteinverlag Berlin 2004, 383 Seiten, 8,95 Euro
Omulaule heißt schwarz. Regie: Beatrice Möller, Nicola Hens, Susanne Radelhof, D 2003 (Start Okt. 2004), 66 Min., OmU Filmverleih.


Dornenbusch und Tannenbaum - Lebenswege zwischen Namibia und Deutschland

Ein Buch und ein Film geben Einblicke in ein wechselvolles wie historisch überaus interessantes Kapitel Namibisch-Deutscher Geschichte. Schon das Deutsche Reich hatte in "Deutsch-Südwestafrika" ein zunehmend brutales rassistisches Regime geführt, bis es die Kolonie mit dem Versailler Vertrag 1919 endgültig verlor. Als die folgende Kolonialmacht Südafrika in den 1960er Jahren das System der Apartheid installierte, regte sich in der schwarzen Bevölkerungsmehrheit zunehmend Widerstand. 1966 nahm die von der größten Bevölkerungsgruppe der Ovambo dominierte South West African Peoples Organisation (SWAPO) schließlich den bewaffneten Kampf auf. Dieser wurde zunehmend von Nachbarländern wie Angola, Botswana und Sambia aus geführt, wo auch Flüchtlingslager entstanden. Doch selbst diese exterritorialen Flüchtlingslager wurden Angriffsziele Südafrikas. So wurde am 4.5.1978 das berüchtigte Massaker von Kassinga in Angola verübt, bei dem allein über 600 Menschen ermordet wurden. In der Folge ersuchte die SWAPO befreundete Staaten wie Kuba, die Tschechoslowakei und die DDR darum, Kinder aus den Lagern aufzunehmen. Sie sollten nicht nur Zuflucht vor Krieg und Hunger bekommen, sondern auch zur künftigen Elite eines unabhängigen Namibias ausgebildet werden.

In ihrer Autobiografie Kind Nr. 95 - Meine deutsch-afrikanische Odyssee beschreibt Lucia Engombe, wie sie 1979 in dem im Busch Sambias befindlichen Lager Nyango gefragt wird, ob sie mit nach Deutschland fliegen wolle. Mit ihren sieben Jahren hat sie schon fünf elende Jahre auf der Flucht hinter sich und ist eine der Älteren, die mitkommen. Am selben Tag sitzt sie bereits in einem Bus auf dem Weg ins Ungewisse. Nach einer langen Reise kommt sie am 18.12.1979 mit der ersten Gruppe von 80 Kindern im neuen SWAPO-Heim Schloss Bellin (Mecklenburg-Vorpommern) an. Der Zeit dort und später in Straßfurt (Sachsen-Anhalt) mit allen Beziehungen, Höhen und Tiefen ist der größte Teil des sehr persönlich gehaltenen Buches gewidmet. Insgesamt kommen bis 1986 etwa 430 Kinder. Die "Ausbildung zur Elite" durch namibische und deutsche Erzieherinnen und den namibischen Ausbilder beinhaltete, dass die Kinder weitgehend abgeschottet von normalen DDR-BürgerInnen aufwuchsen. Sie bekamen Unterricht in Oshivambo, namibischen Tänzen und Gesängen. Hinzu kamen Appelle, militärischer Drill und der Umgang mit Gewehren. "Soldaten müssen bereit sein, für die Heimat zu sterben" habe der namibische Lehrer und einstige Soldat Jonas oft gesagt, und als ein Kind meint, "Ich will mich aber nicht erschießen lassen", klatschen die Ohrfeigen (S. 140).

Die Kinder werden gut versorgt, lernen die deutsche Sprache, sind dem Regiment deutscher "Tugenden" unterworfen, besuchen deutsche Schulen (wenn auch in eigenen Klassen), haben innige Kontakte zu einzelnen deutschen ErzieherInnen und LehrerInnen, spielen im riesigen Park des Schlosses Bellin. Dies alles führt zu Entwicklungen jenseits der Bestimmung. Ihr Oshivambo gerät zusehends in Vergessenheit und dient allenfalls der vor Deutschen verschlüsselten Kommunikation. Die Erinnerungen an Afrika verblassen in ihrem eigenen DDR-Alltag. "Wenn ich an den Schulwänden Sprüche las wie Neger stinken, fand ich das eher komisch; wir waren keine Neger und fühlten uns nicht angesprochen" (S. 208). In Straßfurt werden sie weniger von der DDR abgeschottet und lernen auch Kubaner und Mosambikaner kennen. Gleichzeitig erleben sie zunehmend Rassismus und Neid auf ihre vermeintliche Privilegierung; bei den Pöbeleien und Prügeleien mit weißen DDR-Kids können sie sich als Gruppe gleichwohl gut behaupten.

Dann überstürzen sich die Ereignisse: 1989 zieht Südafrika die Truppen aus Namibia ab, die Berliner Mauer fällt. In der DDR will man die Kinder nicht mehr, im seit März 1990 unabhängigen Namibia will die nun an der Regierung befindliche SWAPO sie auch irgendwie zurück, hat aber weder Ressourcen noch einen Plan, um sich um die "DDR-Kinder" zu kümmern. Dennoch findet im August völlig überstürzt und noch vor dem Beitritt der DDR zur BRD die "Rückführung" der "Verschiebemasse" statt. Denn die Kinder und Jugendlichen haben weder ihre Ausbildung abgeschlossen, noch haben sie eine Perspektive vor sich. Einige - gerade der Jüngeren aus den späteren Gruppen - haben ihre "Heimat" noch nie gesehen, und wohl die meisten trifft ein Schock bereits, als sie Namibia vom Flugzeug aus sehen: statt der erwarteten Tropen sehen sie Wüste. Und statt Überfluss von Ananas und Bananen sehen sie den Kontrast der Quartiere der reichen Weißen und der Slums für die Schwarzen.

Dem Kulturschock und den Lebenswegen nach der Rückkehr widmet sich auch der Dokumentarfilm Omulaule heißt schwarz von Beatrice Möller, Nicola Hens und Susanne Radelhof. Darin kommen vor allem eine Reihe von "Ex-DDR-Kids" zu Wort, die allerdings keine Kids mehr sind und diesen Begriff auch nicht (mehr) mögen. Wurden sie in der DDR als AfrikanerInnen behandelt, so waren sie nun in Namibia die Deutschen, die Probleme hatten, sich auf Oshivambo mit ihren Familien zu verständigen und in neue und völlig ungeklärte Lebenssituationen geworfen wurden. Manche gingen aufs Land, wenige zeitweise oder ganz nach Deutschland und viele blieben in Windhoek. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass einige in der schwierigen Zeit nach der Rückkehr Unterstützung ausgerechnet durch Teile der deutschstämmigen Minderheit bekamen. Als Pflegekinder in den Familien oder als Schüler der deutschen Privatschulen traten sie in eine Welt ein, die Schwarzen bis dato weithin verschlossen war. Doch dort wurden sie wieder als Schwarze angesehen, die Deutsch reden - und gaben sich den Oshivambo-Begriff Omulaule als Gruppenbezeichnung: Schwarz.
Das Leben der traditionsbewussten Deutschnamibier erschien ihnen allerdings nicht immer sehr deutsch. In Engombes Buch - das ein Verkaufsschlager in dieser Gruppe ist - beschreibt sie, wie sie an Weihnachten mit ihrer deutschsprachigen Gastfamilie Plätzchen backt. Das erinnert sie an früher. Eigentümlich erscheint ihr allerdings, dass die Plätzchen an einen Dornenbusch statt an einen Tannenbaum gehängt werden. Denn im Gegensatz zu Horst und Regine, die u.a. eine Jagdfarm unweit von Namibias Hauptstadt Windhoek verwalten, hat sie den größten Teil ihrer Kindheit in Deutschland verbracht.

Omulaule Bild: OmU Filmverleih

Buch und Film kreisen um Fremdbestimmung und Fremdzuschreibungen, aber auch um aktives Zurechtfinden unter wechselnden Rahmenbedingungen. Das Buch schildert eher, wenn auch nicht nur, den Leidensweg und übt dabei manche Kritik an der Innenpolitik der SWAPO. Deswegen jedoch wie das ZDF-Magazin Mona Lisa von "Kindersoldaten" zu reden und so schlimmste Assoziationen zu wecken, geht krass an der Realität in den Internaten vorbei. Im Film bezeichnet etwa Theo den Drill ganz lässig als "kommunistische Unterhaltung". Neben dem Aspekt der Selbstsuche wird in den Interviews eben auch Selbstbewusstsein deutlich und damit verbunden die Forderung, nach all den Jahren nicht mehr von außen als homogene Gruppe definiert zu werden. Angesichts dieser empfehlenswerten und sich gut ergänzenden persönlichen Darstellungen wäre es interessant, mehr über die politisch-historischen Zusammenhänge und die Aufarbeitung innerhalb der SWAPO zu erfahren.

Heiko Wegmann

Diese Rezension ist zuerst erschienen in: iz3w Nr. 286 (2005), S. 38-39

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