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Deutschland postkolonial?

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Deutschland postkolonial? - Über die ‘Bewältigung’ des deutschen Kolonialismus

von Birgit Schmitz

Wenn überhaupt den ‘Spuren’ des deutschen Kolonialismus nachgegangen wird, so geht es dabei meist nur um dessen kulturelle Hinterlassenschaften und um die Segnungen zivilisatorischen Fortschritts. Manche medialen Auseinandersetzungen mit diesem Erbe und der (post)koloniale Blick tragen sowohl zur Wiederbelebung alter Mythen bei, als auch zur (Re)Konstruktion rassistischer Identitäten.

In einem 1996 ausgestrahlten Dokumentarfilm über die ‘Spuren’ des deutschen Kolonialismus in Togo (1) findet sich zu Beginn eine Szene, in der sich die hoffnungslos verirrten Mitglieder des Filmteams nach dem Weg erkundigen. Keine ungewöhnliche Situation in einem fremden Land, so könnte man meinen, würde nicht eine Stimme aus dem Off berichten, daß damals, zu jener Zeit, als Togo noch deutsche Kolonie war, eine falsche Auskunft gegenüber einem Weißen mit einer Prügelstrafe geahndet wurde: fünfundzwanzig Hiebe und einen zusätzlich – für den Kaiser. Noch heute wird in Togo von diesem ‘Bonushieb’ gesprochen, wenn man sich an solche Strafmaßnahmen erinnert. Für die Dokumentarfilmer steht die Redewendung »und einen für den Kaiser« jedoch nicht für die Macht, mit welcher der oberste deutsche Kolonialherr sich sprichwörtlich in den Körper der Bevölkerung einschrieb, sondern eher für die besondere Ordnungsliebe und Disziplin, mit der die Deutschen Togo zu ihrer ‘Musterkolonie’ machten. An erster Stelle interessieren also deutsche Kultur und deutsche Mentalität. Die ‘Spurensuche’ befaßt sich nicht mit dem Eigenen im Anderen und dem Anderen im Eigenen, sie wird inszeniert als bloße Begegnung zweier strikt voneinander getrennter Kulturen.

Die Rekonstruktion kolonialer Mythen

Die Mär von der deutschen ‘Musterkolonie’ Togo hat Tradition. Den Imperialisten im wilhelminischen Kaiserreich galt Togo als vorbildlich, da es ohne heftigen Widerstand annektiert, mit wenigen Beamten effizient verwaltet werden konnte und zudem im Gegensatz zu den anderen deutschen ‘Schutzgebieten’ auch noch kleine wirtschaftliche Gewinne einbrachte. Dieses in der Geschichtswissenschaft lange unumstrittene Bild wird von den scheinbar »wenigen überlieferten Fällen brutaler Eingeborenenbehandlung« (2) abgerundet.

Tatsächlich gestaltete sich die deutsche Kolonisierung in Togo kaum ‘musterhafter’ als jede andere. Aktuellere Untersuchungen, die auch den schwarzen Widerstand berücksichtigen, zeigen, daß Zwangsarbeit und brutale Mißhandlungen der Bevölkerung an der Tagesordnung waren. (3) Hinzu kamen rassistisch legitimierte Schlafkrankheitsexperimente deutscher Ärzte. (4) Der ARD-Film verschweigt diese Tatsachen keineswegs, und doch scheint ihre Darstellung kaum mehr als eine lästige Pflichtübung zu sein. Das Filmteam unter der Leitung des ehemaligen ARD-Auslandskorrespondenten in Togo, Luc Leysen, findet seine Mythen nämlich auf dem Umweg über die Anderen wieder. Während die Deutschen die Fehler der Kolonialherrschaft eingestehen, sind es heute scheinbar die Togoer selbst, die deren positive Seiten betonen. Wie Leysen fast verwundert feststellt, empfindet niemand Haß oder Ressentiments gegenüber den Deutschen, im Gegenteil, ihnen schlägt große Sympathie entgegen. Geht es um die deutsche Kolonialzeit, loben alle Interviewpartner – vom katholischen Bischof bis zu den Bewohnern eines ehemaligen deutschen Arbeitslagers – die ‘gute Zusammenarbeit’ mit der damaligen Regierung.

Auch diese seltsam positive Beziehung der Togoer zum ehemaligen Kolonialherren Deutschland hat Tradition. Von togoischer Seite aus wird seit der Unabhängigkeit Togos 1960 in jährlichen Staatsbesuchen und Feiern der deutschen Anwesenheit in Togo gedacht. Seinen Höhepunkt erreichte der glorifizierende Umgang mit der Kolonialgeschichte in den Feiern zum sogenannten Jubiläum »100 Jahre deutsch-togoische Freundschaft« 1984. Siebzig Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft beging man festlich das Jahr, in dem der Reichskommissar Gustav Nachtigal Togo zur Sicherung des deutschen Handels unter kaiserlichen ‘Schutz’ stellte.

Erst diese Reaktionen der ehemals Kolonisierten ermöglichten es Leysen, die gute Regierung und die Modernisierungsimpulse des deutschen Kolonialismus implizit doch wieder anzusprechen und diesen im nachhinein zu rechtfertigen. So führt die »Spurensuche in den ehemaligen Kolonien« schließlich zu den ‘Spuren’ des zivilisatorischen Fortschritts, den die Deutschen ihrer ehemaligen Kolonie implementierten – zu Straßen und Alleen, die im Auftrage deutscher Kolonialbeamter angelegt wurden, zu Kolonialbauten, Eisenbahnlinien und Telegraphenmasten, die zudem von »deutscher Wertarbeit« geprägt sind, wie die Stimme aus dem Off verkündet. Der Film kontrastiert penetrant die deutschen Leistungen der Vergangenheit mit einer togoischen Gegenwart, die mit den üblichen Bildern des Verfalls in der Dritten Welt illustriert wird. Die Hafenstadt Anecho etwa, so wird berichtet, war einmal ein blühendes Handelszentrum, ein »afrikanisches Venedig«, aber heute »vergammelt sie in Nostalgie«.

Die positiven Reaktionen der Togoer, welche die Wiedererfindung der Kolonialmythen gestattet, hat sich das Filmteam keineswegs ausgedacht. Sie hängen allerdings weit mehr mit jüngerer togoischer Geschichte zusammen als mit den tatsächlichen deutschen Modernisierungsleistungen. Zum einen richtete sich der Unabhängigkeitskampf der Togoer nicht gegen Deutschland, das bekanntlich nach 1918 seine Kolonien endgültig verlor, sondern gegen die im Versailler Vertrag eingesetzte Mandatsmacht Frankreich. Daher überwand Togo im Prozeß der Dekolonisierung die französische Herrschaft, die deutsche geriet darüber in Vergessenheit. Zum anderen werden in Togo von dem seit dreißig Jahren autoritär gebietenden Staatspräsidenten Gnassingbe Eyadema alle kritischen Beiträge zur deutschen Kolonialzeit ganz einfach zensiert, denn die Regierung möchte ihre hervorragenden partnerschaftlichen Beziehungen zur Bundesrepublik nicht gefährden, die sich nicht zuletzt auch finanziell auszahlen. In diesem Sinne läßt sich die Sympathie als eine Art staatlich geförderte historische Amnesie verstehen.

Identität und Ambivalenz

Die ‘Spuren’ des ARD-Dokumentarfilms rekonstruieren jedoch nicht nur koloniale Mythen, sondern präsentieren auch ‘Merkmale’ deutscher Identität in einer Einheitlichkeit und Unvermischtheit, die sich ‘zu Hause’ wahrscheinlich nur noch schwerlich finden läßt: Ordnungsliebe, Diszplin und Wertarbeit. All die Zeichen zivilisatorischen Fortschritts werden als deutsche Zeichen ausgegeben, als seien es nicht afrikanische Hände gewesen, die ihn ermöglichten. Zudem werden die ‘Spuren’ unvermischter deutscher Provenienz auf der Folie eines ‘eigentlichen’ Afrika entfaltet, welches der Film gegen Ende zeigt. Es ist jenes scheinbar ewige, uralte Afrika der Fetischmärkte und Voodoopriester, das es »bereits vor der deutschen Kolonisation gegeben hat und immer geben wird.« Im Bild werden dazu Voodoopuppen, Tierkadaver und Skelette mit jener preußischen Pickelhaube konfrontiert, die bereits während des gesamten Films als Symbol kaiserlicher Herrschaft herhalten mußte.

Der so erzeugte Kontrast ermöglicht die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Die zeitliche Überlappung von kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart inszeniert eine kulturelle Wesensungleichheit und verleiht dem ganzen auch noch einen unveränderlichen Charakter. Indem das Andere gegenüber der westlichen Zivilisation als exotistische Natur vorgeführt wird, lassen sich kulturelle Identitäten als einheitlich und geschlossen darstellen. Ambivalenzen und Vermischungen hat es jedoch mehr gegeben, als das ARD-Team zu sehen bereit ist. Die Erinnerung an ihre Existenz ist oft nachträglich wieder gelöscht worden. In Kultur und Imperialismus spricht Edward Said von den reinen oder gereinigten Bildern, »die wir von einer privilegierten, genealogisch sinnvollen Vergangenheit konstruieren, einer Vergangenheit, aus der wir unerwünschte Spuren und Erzählungen tilgen.« (5) So wurden auf der Seite der Kolonisierten reine Traditionen im Rückgriff auf die präkoloniale Vergangenheit erst erfunden, um für den Befreiungskampf und später dann für die jungen Staaten nationale Identitäten zu schmieden. Und die Kolonialmächte eliminierten ihrerseits jene Vermischungen, welche die Reinheit ihrer überlegenen Kultur zu unterlaufen drohten.

Die Deutschen sorgten in Togo schon während der Kolonialzeit dafür, keine ‘Spuren’ zu hinterlassen, die den markierten Unterschied zwischen Deutschland und Afrika hätten aufheben können. Ein gutes Beispiel für solche Operationen ist der Umgang mit den ‘Mischlingskindern’, die Luc Leysen zwar erwähnt, in deren Behandlung er jedoch wenig mehr erkennen kann als ein bedauerliches »koloniales Schicksal«. Der Ausbau der Kolonialherrschaft und die damit ansteigende Zahl lediger deutscher Männer in Togo führte zu einem beträchtlichen Anstieg der ‘Mischlingskinder’. Zunächst wurde es diesen ‘Mischlingen’ gemäß der Tradition gestattet, den Namen ihres deutschen Vaters zu führen. Kolonialrechtlich jedoch galten sie als ‘Eingeborene’, da Schwarze zwar deutsche Untertanen aber nie deutsche Reichsangehörige sein konnten.

Nun stand die Existenz der ‘Mischlinge’ in augenfälligem Widerspruch zur rassistischen Kolonialpolitik. Da sich das Verbot von ‘Rassenmischehen’ kaum auf das Zusammenleben von deutschen Männern und afrikanischen Frauen auswirkte, kam die Kolonialverwaltung auf die Idee, wenigstens die ‘Ergebnisse’ solcher Verbindungen rechtlich auszulöschen. So untersagte der damalige Gouverneur Adolf Friedrich zu Mecklenburg 1913 den ‘Mischlingen’, den Namen ihres Vaters weiterzuführen. Und auch wenn viele der ‘Mischlinge’ nach Ende der deutschen Kolonialherrschaft wieder ihren deutschen Namen annahmen, blieben sie für Deutschland weiter unsichtbar. Bis heute ergeben sich aufgrund ihrer Abstammung im Gegensatz zu anderen ‘Volkszugehörigen’, etwa denen aus dem ehemaligen Ostblock, keinerlei Ansprüche auf die deutsche Staatsbürgerschaft.

Oft ist es jedoch nicht einmal nötig, in der Geschichte nach bewußten Bereinigungen zu suchen. Auch die von Leysen entdeckten ‘Spuren’ lassen sich durchaus als hybride Formen interpretieren. Sowohl in den ‘guten Erinnerungen’ als auch in den erwähnten Gedenkfeiern kommt eine seltsam unfreiwillige, symbolische Aneignung der Kolonialzeit zum Ausdruck. Statt die Kolonisierung abzuwehren, identifizieren sich die Togoer mit ihr. Diese Identifikation mit der anderen Nation unterläuft allerdings das westliche Bild der homogenen Nation, die sich aus der reinen Tradition eines kulturellen Erbes speist. In solchen Aneignungen geraten die Grenzen zwischen Eigenem und Anderem plötzlich ins Wanken.

Postkoloniales Deutschland?

In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit spielt der deutsche Kolonialismus bis heute überhaupt keine Rolle. Aufgrund der angeblich nur kurzweiligen – immerhin jedoch über dreißig Jahre andauernden – und in ihren geographischen Ausmaßen vergleichsweise wenig bedeutenden kolonialen Expansion glaubt man, das Phänomen und seine Folgen vernachlässigen zu können. Zudem scheint Deutschland durch den Verlust der Kolonien bereits spätestens 1918 ‘postkolonial’ geworden zu sein.

Der frühe Verlust der deutschen Kolonien hat allerdings die koloniale Idee in Deutschland keineswegs ausgelöscht. Bereits während des Ersten Weltkrieges entstanden erste Pläne für die Schaffung eines mittelafrikanischen Kolonialreiches. Auch als die Kolonien als Mandatsgebiete des Völkerbundes an die Alliierten übertragen worden waren, blieben während der gesamten Periode der Weimarer Republik koloniale Revisionsforderungen keine Seltenheit. Und auch die Nationalsozialisten träumten keineswegs nur von einem ‘Lebensraum im Osten’, sondern sie nahmen darüber hinaus auch die Idee eines territorial zusammenhängenden ‘Mittelafrikanischen Reiches’ wieder auf. Zudem verbanden sich im ‘Dritten Reich’ koloniale Expansionsbestrebungen mit dem Wunsch nach Ausgrenzung der europäischen Juden, was in dem Plan gipfelte, sämtliche Juden nach Madagaskar zu deportieren. Schließlich lassen sich – trotz aller Unterschiede zwischen dem imperialistischen Gedanken vor 1914 und dem völkischen Nationalsozialismus – in bezug auf die rassistische Ideologie viele Gemeinsamkeiten feststellen.

‘Vergangenheitsbewältigung’ findet jedoch bis heute nur im Hinblick auf das ‘Dritte Reich’ statt. Zwischen dem kolonialen Rassismus und dem Antisemitismus wird gewöhnlich keinerlei Zusammenhang gesehen. Selbst in der aus dem englischsprachigen Raum importierten Debatte um Postkolonialismus, in der insbesondere Vermischungen und Ambivalenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen diskutiert werden, spielt der tatsächliche deutsche Kolonialismus keine Rolle. In einem deutschen Sammelband über den »postkolonialen Blick« beschäftigt sich von vierzehn Beiträgen nur ein einziger mit den ehemaligen deutschen Überseegebieten. (6) Die Herausgeber des Bandes Hybride Kulturen, in dem sich wichtige Texte der angloamerikanischen Postkolonialismusdiskussion finden, ignorieren den deutschen Kolonialismus schlichtweg, indem sie behaupten: »(1) Eine koloniale Vergangenheit im großen Stil hat Deutschland nie gehabt. (2) Die Folgen des Weltunterwerfungswahns im Dritten Reich sind schwer mit der Problematik eigentlicher Kolonialherrschaft zu vergleichen.« (7) Fast bedauernd heißt es dann auch noch im Klappentext des Buches: »Deutschland hatte kaum Kolonien, die heute das öffentliche Klima mitbeeinflussen und beleben könnten.«

Es ist fast ein wenig absurd zu fordern, daß eine Beschäftigung mit dem Thema Postkolonialismus selbstverständlich auch den deutschen Kolonialismus beinhalten muß. Bei soviel Verdrängung selbst in akademischen Kreisen muß man sich wohl nicht wundern, wenn die populär aufbereitete ‘Spurensuche’ des deutschen Kolonialismus lediglich zu einer Wiederentdeckung von Kolonialmythen und bereinigter deutscher Identität wird.

Anmerkungen:

  1. Der Beitrag wurde innerhalb der ARD-Dokumentationsreihe Reisen in die Vergangenheit – Auf Spurensuche in den ehemaligen deutschen Kolonien 1996 ausgestrahlt.
  2. Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 3. verb. und erg. Aufl., Paderborn 1995, 130.
  3. Vgl. Peter Sebald: Togo 1884-1914. Eine Geschichte der deutschen ‘Musterkolonie’ auf der Grundlage amtlicher Quellen, Berlin (DDR) 1988.
  4. Siehe dazu W.V. Eckart: Medizin und Kolonialimperialismus – Deutschland 1884-1945, Paderborn 1997, 122ff.
  5. E. W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a.M. 1994, 52.
  6. U. Timm: »Das Nahe, das Ferne«, in: P.M. Lützeler (Hg.): Der postkoloniale Blick, Frankfurt a.M., 1997.
  7. E. Bronfen, B. Marius, T Steffen: Hybride Kulturen – Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebate, Tübingen, 1997, 8.

Birgit Schmitz ist freie Autorin. Sie lebt und arbeitet in Köln. Der hier gekürzte Aufsatz erschien zuerst in dem von Ruth Mayer und Mark Terkessidis herausgegebenen Buch Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur, Hannibal Verlag, St. Andrä/ Wördern, 1998

Dieser Text entnommen aus: iz3w Nr. 232 (1998), S. 36ff.

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