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Die Gesetze der Hunnen -

Der deutsche »Kolonialkrieg« gegen die Boxer in China

von Susanne Kuss*

Personen Lokalpresse

»Wie es hier jetzt während des Krieges zugeht, liebe Mutter, ist mir unmöglich zu beschreiben, denn so ein Gemorde und Geschlachte ist gerade zu toll, was daher kommen soll, weil die Chinesen außerhalb des Völkerrechts stehen, weshalb auch keine gefangen genommen werden, sondern alles erschossen, oder um die Patronen zu sparen, sogar erstochen.« Mit diesen Worten, aus welchen eine vorsichtige Distanzierung herausgelesen werden kann, beschrieb ein deutscher Soldat im September 1900 seine Erfahrungen im »Boxerkrieg« in China. »Wehe den Verwundeten, die den fanatischen Chinesen in die Hände fallen! Leichen und Verwundete zerstückeln sie auf ganz barbarische Weise«, heißt es in einem anderen Soldatenbrief.

Bei kriegerischen Konflikten ist es eine übliche Vorgehensweise, die Grenzverletzungen der eigenen Kultur als Ausnahmen abzutun und die der anderen als extrem grausam und abschreckend zu charakterisieren. Eine besondere Konnotation aber bekommt dieser Krieg, weil Kaiser Wilhelm II die Soldaten öffentlich aufgefordert hatte, den Einsatz in China unter Nichtachtung des Völkerrechts zu führen. Am 26. Juli 1900 hatte er im Namen der abendländischen Zivilisation zu einem Kreuz- und Rachefeldzug gegen die chinesischen Frevler aufgerufen: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.« Den im Ersten Weltkrieg berühmt-berüchtigten Beinamen »Hunnen« erhielten die Deutschen infolge dieser »Hunnenrede« ihres Kaisers.

Platz an der Sonne

Im Zeitalter des Imperialismus war das ius ad bellum, nach dem ein Krieg nur aus existentiellen Gründen geführt werden durfte, nicht mehr gültig. Macht war zur Basis aller Politik geworden, Krieg wurde als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachtet. Punktuelle Gewaltanwendung sowie permanente Gewaltandrohung hatten zunächst genügt, um China mit den »Opiumkriegen« (1840-42 und 1856-60) sowie den »ungleichen« Verträgen von Nanjing (1842), Tianjin (1858) und Peking (1860) zur Öffnung der Häfen zu zwingen. Das Land verlor seine Zoll- und Finanzautonomie und geriet mehr und mehr in die Abhängigkeit der europäischen Mächte, allen voran England. Diese waren darum bemüht, das chinesische Kaiserreich nach außen schwach, aber nach innen stark zu halten, um so eine optimale Vertretung ihrer Interessen sicherzustellen.

Seit 1890 wandelten sich die Bedingungen imperialistischer Politik jedoch grundlegend. Die Aufteilung Afrikas (»Scramble of Africa« 1881) war im wesentlichen vollzogen, eine solch territorial dominierte Landnahme erwies sich sowohl im Nahen Osten als auch in China als nicht praktikabel. Dies hing im Wesentlichen mit der Größe der Länder zusammen, deren komplexe Staaten und Gesellschaften ohne einen enormen Aufwand an personellen und finanziellen Mitteln nicht verwaltet werden konnten. So griffen die europäischen Mächte auf die bis dahin in China angewandte Methode der indirekten Herrschaft zurück, modifizierten sie aber insofern, als jetzt durch direkt beherrschte Stützpunkte Interessensphären im Hinterland gesichert werden sollten.

Das deutsche Kaiserreich nahm die Ermordung zweier deutscher Missionare im Herbst 1897 in der Provinz Shandong zum Anlaß, die Bucht Jiaozhou mit dem Dorf Qingdao zu besetzen und eine Stützpunktkolonie zu errichten. Mit dem Diktum, dass auch Deutschland einen Anspruch auf »einen Platz an der Sonne« habe, unterstrich Reichskanzler Bülow die deutschen Ambitionen auf eine tragende Rolle in der Weltpolitik. Die verspätete deutsche Nation wollte damit endgültig aus dem außenpolitischen Schatten der Großmächte treten und ein eigenes Profil gewinnen. Die Vorgehensweise der deutschen Regierung in China wurde zum Präzedenzfall für England, Frankreich und Russland, die kurz darauf ähnliche Stützpunkte an der chinesischen Küste erwarben. Obwohl die beinahe gleichzeitige Festsetzung der Mächte eine weitgehend konfliktfreie Expansion ermöglichte, bestand nach wie vor eine starke Rivalität um Einfluss und Märkte, die durch zwei aufstrebende außereuropäische Staaten, nämlich die USA und Japan, noch verstärkt wurde. Im »Boxeraufstand« trafen die Interessen der alten und der neuen Kolonialmächte sowie der verspäteten Kolonialmacht Deutschland exemplarisch aufeinander.

Fäuste für Gerechtigkeit

Mit seinem Festsetzen in der Provinz Shandong kam das deutsche Kaiserreich unmittelbar mit einem der politisch-sozialen Brennpunkte des damaligen China in Berührung. Seit Mai 1898 war dem chinesischen Kaiserhof in offiziellen Berichten von den sogenannten Yihequan (Fäuste für Gerechtigkeit und Frieden) berichtet worden, die vornehmlich an der Grenze zwischen Zhili (heute: Hebei) und Shandong operierten. Bis zum Ende des Jahres hatte sich diese Bewegung, die von den Missionaren wegen der unter anderem angewandten Kampftechnik des Schattenboxens »Boxer« genannt wurden, über zahlreiche Kreise verteilt. Der Grund für den immensen Zulauf zu Boxerbewegung lag in erster Linie darin, dass Arbeitslosigkeit, Flutkatastrophen und Hungersnöte viele Bauern entwurzelt hatten. Als eigentlicher Feind wurden jedoch die christlichen Missionare sowie die chinesischen Konvertiten betrachtet. Der Kaiserhof versuchte zunächst, die Boxer zu bekämpfen, doch bald setzte sich die Überzeugung durch, dass eine gemeinsame Front gegen die Westmächte wirkungsvoller sei. Als Yihetuan (Abteilungen für Gerechtigkeit und Frieden) wurden die Aufständischen in die chinesische Armee integriert.

Erst als die Boxer im Frühjahr 1900 begannen, von Nordostchina nach Peking vorzurücken, erkannten die ausländischen Diplomaten im Gesandtschaftsviertel der chinesischen Hauptstadt, dass dies nicht nur eine Gefährdung ihrer vitalen Interessen in China, sondern auch eine Gefahr für ihre physische Existenz darstellte. Verstärkt wurden diese Befürchtungen durch Berichte über die Greueltaten der Boxer sowie die »Unnachgiebigkeit« des Kaiserhofes. An einer Niederwerfung des Aufstandes waren alle Mächte interessiert, handelte es sich doch um einen Angriff auf das Abendland insgesamt, der nur durch eine gemeinsame Strafexpedition erfolgreich und nachdrücklich abgewehrt werden konnte. Deutschland sah sich zu der Leitung einer solchen militärischen Mission in besonderem Maße berufen, da der deutsche Gesandte Clemens von Ketteler am 20. Juni 1900 beim Verlassen des Gesandtschaftsviertels von Peking ermordet worden war. Dass mit Generalfeldmarschall Alfred von Waldersee schließlich tatsächlich ein deutscher Offizier den Oberbefehl über das Internationale Expeditionskorps erhielt, hing mit dem Misstrauen und den Rivalitäten der Mächte untereinander zusammen: Die Engländer wollten keinen russischen Oberbefehl akzeptieren, die Russen keinen britischen, und ein japanischer Militär kam sowieso nicht in Frage.

Knapp verpasster Ruhm

Doch noch bevor das Expeditionskorps aus sieben Nationen in China eintraf und in das Geschehen eingreifen konnte, war das Gesandtschaftsviertel im August von vor Ort stationierten Truppen befreit worden, wenn auch nahezu ohne deutsche Beihilfe. Die deutschen Soldaten trafen erst Tage später ein. Die Plünderung ging als eine der barbarischsten in die Geschichte ein. Die siegreichen Truppen ergingen sich exzessiv in Mord und Raub: Frauen wurden vergewaltigt, Männer erschossen und Häuser, ja ganze Stadtviertel in Schutt und Asche gelegt; die Beute in Form von Silber, Seide und Getreide wurde in Kisten abtransportiert. Eine unübersehbare Spur der Zerstörung und des Terrors zog sich durch Peking und ganz Nordchina.

Erst als die Kämpfe vorbei waren, traf das Gros der deutschen Soldaten am Schauplatz des Geschehens ein. China lag zu diesem Zeitpunkt militärisch am Boden, die kaiserliche Regierung war geflüchtet, die Boxer existierten nurmehr als versprengte Gruppen. Da sich die Gouverneure vieler Provinzen neutral verhielten, hatte sich der Aufstand nicht über die nordöstlichen Gebiete hinaus ausgebreitet. Der große Kampf, zu dem sich die deutschen Kontingente des Expeditionskorps in der Hoffnung auf ruhmreiche Schlachten freiwillig gemeldet hatten, blieb aus. Als Ersatz wurden deutsche Soldaten auf Strafexpeditionen gegen Aufständische und Plünderer geschickt. Für die Boxer, die chinesischen Soldaten und auch die chinesische Zivilbevölkerung bedeuteten diese Expeditionen eine extreme Barbarei in Form von Exekutionen, Vergewaltigungen und Verwüstungen.

Im deutschen Kaiserreich galt für die Situation des Krieges nicht nur das unverbindliche Völkerrecht, sondern auch das verbindliche Militärstrafrecht. Danach sollten Eigentumsdelikte, Körperverletzungen und Verbrechen oder Vergehen wider die Sittlichkeit bestraft werden. Da solche Straftaten in China jedoch nicht geahndet wurden, muss ein allgemein anerkannter Konsens hinsichtlich der Überschreitung jener Gesetze existiert haben. Damit vollzogen Offiziere und Soldaten ihre Handlungen in einem straffreien Raum. Die Grenze zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten, die es nicht nur im zivilen, sondern auch im kriegerischen Zustand einer Gesellschaft gibt, war aufgehoben.

Der erste Krieg des wilhelminischen Deutschland in China nahm damit eine Kriegführung vorweg, die in den Kolonialkriegen in Deutsch-Südwestafrika (1904-1907) und Deutsch-Ostafrika (1905-1906) eine neue Dimension erhielt. Unter Generalleutnant Lothar von Trotha, Mitglied des Ostasiatischen Expeditionskorps in China, wurde in Südwestafrika ein Vernichtungskrieg geführt, der sich ausdrücklich nicht nur gegen die feindlichen Streitkräfte, sondern auch gegen Frauen und Kinder richtete. Der »Kampf ohne Friedensmöglichkeit«, der schlussendlich mit der Tötung der Hälfte der Herero-Bevölkerung und der Deportation der Überlebenden in Sammellager endete, beruhte auf einem Plan, dem von seiten der militärischen Führung in Berlin nicht widersprochen worden war. Auch hier wurde kein instrumenteller, sondern ein existentieller Krieg geführt. Dies aber ist eine Charakterisierung, die auch auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg angewendet werden kann.

Kaiserliche Sühnemission

Die extreme Härte und Unnachgiebigkeit der deutschen Seite in China zeigte sich ebenso bei den Friedensverhandlungen. Während dieser Verhandlungen wurden die Strafexpeditionen unvermindert fortgeführt, Waldersee drohte sogar damit, chinesische Gebiete militärisch zu besetzen. Nachdem sich alle Kolonialmächte in China schon 1900 auf das Prinzip der »Offenen Tür« geeinigt hatten, in dem sie sich zum Verzicht auf einzelstaatliche Interessenausweitung zu Lasten anderer Staaten verpflichteten, folgte im September 1901 die Unterzeichnung des sogenannten Boxerprotokolls. Darin wurde letztlich der halbkoloniale Status Chinas bestätigt. Besonderen Wert hatten die deutschen Vertreter darüber hinaus auf die Errichtung eines Ketteler-Mahnmals in Peking sowie der Entsendung einer Sühnemission mit einem Mitglied der kaiserlichen Familie nach Deutschland gelegt.

Trotzdem entwickelten sich die gegenseitigen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg gut – nicht zuletzt deshalb, weil Deutschland 1919 im Zuge des Vertrages von Versailles seine Kolonien, so auch Jiaozhou, verlor. Als nicht-imperialistische Macht konnte es 1921 mit China einen Vertrag auf der Ebene der Gleichberechtigung abschließen. In der Folge lehnte sich China sogar eng an Deutschland an, in der Hoffnung, die beiden »Verlierer von Versailles« könnten ihre Zusammenarbeit vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet vertiefen. Findet heute in China eine Auseinandersetzung mit dem Verhalten der imperialistischen Mächte im Boxerkrieg überhaupt statt, so ist es in der Regel Japan, das näher betrachtet wird.

Der Boxerkrieg war ein Höhepunkt der expansionistisch-imperialistischen Bewegung, die zur gewaltsamen Begegnung der europäisch-westlichen mit anderen Kulturen führte. Das Medium der Auseinandersetzung war zunächst der Krieg, auch wenn später vielseitigere Kulturkontakte folgten. Dieser Krieg war für China bedeutsam, weil er den nationalen Befreiungskampf als Bewegung von unten vorwegzunehmen schien; er war für Deutschland bedeutsam, weil er Ursprünge und Elemente (Hannah Arendt) dessen enthielt, was dem Völkermord des Russlandfeldzuges 1941 vorausgegangen war.

*Susanne Kuss ist Historikerin und hat über die »Entwicklungshilfe« des Völkerbundes für China (1927-1937) geforscht.

Dieser Text ist erschienen in: iz3w Nr. 250 (Januar 2001), S. 41-43

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