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Rezension von

"Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas"

Personen Lokalpresse

 

Die Last des Erinnerns

Kollektives Gedächtnis, Erinnerung und Geschichtspolitik avancierten in den vergangenen Jahren zu dominierenden Forschungsthemen in den Kultur- bzw. den (post-)modernen Geistes- und Sozialwissenschaften. Stand bisher die Geschichte des Nationalsozialismus im Vordergrund, so wird der Fokus zunehmend auch auf andere Felder ausgeweitet wie etwa den neuzeitlichen Kolonialismus. Der von Steffi Hobuß und Ulrich Lölke herausgegebene Sammelband „Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas“ gehört in diesen Kontext. Er dokumentiert die Vorträge der Tagung „Die Last des Erinnerns“, die im Juni 2005 in Kooperation mit den Transformation Studies der Universität Hannover an der Universität Lüneburg abgehalten wurde.

Die 12 Beiträge europäischer und afrikanischer Autoren aus den Geschichts-, Literatur- und Bildwissenschaften, der Philosophie wie der Anthropologie/Ethnologie belegen einmal mehr, dass kollektive Erinnerungspraxis nicht etwas abgeschlossen-statisches ist, sondern sich stets im Fluss befindet. Kollektives und öffentliches Gedächtnis - d.h. Geschichte als interessengeleitete, durch das Geschichtsbewusstsein des Menschen rekonstruierte Vergangenheit - unterliegt Aushandlungsprozessen und ist zu allen Zeiten umkämpft, wollen doch Staaten, Parteien oder Gruppen ihrem Weltbild zur Durchsetzung verhelfen.

Der interdisziplinär ausgerichtete Sammelband zielt darauf ab, durch die Gegenüberstellung der disparaten Erinnerungsdiskurse in Afrika und Europa Rückschlüsse auf deren nationale und internationale Wirkungskraft ziehen zu können. Es gibt eher theoretisch ausgerichtete Aufsätze wie den des Philosophen Jacob Emmanuel Mabe, der sich mit der Entwicklung vom kollektiven Gedächtnis zur Konvergenzhistorik auseinandersetzt. Die postkolonialen Erinnerungsdiskurse Namibias und Deutschlands nehmen Henning Melber und Reinhart Kößler unter die Lupe. Leo Kreutzer geht am Beispiel des 1927 erschienenen Romans Volke ohne Raum von Hans Grimm der Frage der ausgebliebenen Dekolonisierung eines „Kolonialismus ohne Kolonien“ nach. Maguèye Kassé befasst sich mit der Auswärtigen Kulturpolitik der BRD bezogen auf Afrika in den Jahren 1952-1966. Leonhard Harding zeigt am Beispiel des Völkermordes in Rwanda, wie mit verheerenden Folgen die Erinnerung breiter Bevölkerungskreise manipuliert werden kann. Einen aufschlussreichen Vergleich der Erinnerungsorte in Deutschland und Südafrika unternimmt Volker Paulmann; was den deutschen Fall betrifft, spart er jedoch die kolonialen Erinnerungsorte aus, die gerade in diesem Zusammenhang von Interesse gewesen wären. Dazu kann man etwas bei Heiko Möhle nachlesen, der die Debatten um die Hamburger „Askari-Reliefs“ aufgearbeitet hat. Während Stefanie Michels sich mit den postkolonialen Gedächtnistopographien in Kamerun befasst, äußert sich Peter Sebald über die „‚Lust’ und ‚List’ kolonialer Erinnerung“ in der ehemaligen deutschen „Musterkolonie“ Togo. Dass mit dem „pictoral turn“ die visuellen Produktionen und Praktiken in den letzten Jahren aus ihrer Randständigkeit herausgetreten sind, zeigen Astrid Kusser und Susann Lewerenz mit ihrem Beitrag. An Hand kolonialer Ansichtskarten stellen sie einen methodisch sehr anspruchsvollen Ansatz vor, wie die historische Bildforschung solche, von Klischees und Stereotypen geprägten Bildmedien präsentieren und rassistischen Blickregime analysieren kann, ohne der Gefahr zu erliegen, sie zu reproduzieren und in die Gegenwart weiterzuschreiben.

Bleibt festzuhalten, dass auch nach 1945 in Deutschland eine Dekolonisierung (des Bewusstseins) versäumt wurde, wie Steffi Hobuß dies in ihrem Aufsatz zu Recht anmerkt. Eine Verständigung zwischen Afrika und Europa kann aber ohne eine Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe nicht funktionieren. Dieser Aufgabe haben sich die ehemals Kolonisierten wie die vormaligen Kolonialherren gleichermaßen zu stellen.

Joachim Zeller

Steffi Hobuß / Ulrich Lölke (Hg.): Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, Westfälisches Dampfboot, Münster 2007, ISBN 3-89691-643-2, 24,90 €.

Siehe auch:

Grimm, Sabine: Kulturkritische Ansätze der postcolonial studies (1997; 77 KB, pdfpdf) Zum Text

Kößler, Reinhart und Henning Melber: Vergangenes in der Gegenwart. Kontinuitäten des Deutschen Kolonialismus (2004) Zum Text

Rezension: Castro Varela, María Do Mar und Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie - Eine kritische Einführung (2005). Zum Text