Pressedokumentation auf www.freiburg-postkolonial.deReichstagsdebatte: Streit zwischen Roeren (Zentrum) und Kolonialdirektor Dernburg über Kolonialskandale |
Freiburger Zeitung, 05.12.1906, 1. Blatt, 1. Seite Deutscher Reichstag. Berlin, 3. Dezember. Am Bundesratstische Dernburg und Tschirschky. Die Tribünen sind überfüllt, das Haus ist schwächer besetzt. Präsident Graf Ballestrem eröffnet die Sitzung um 1 Uhr 20 Min. mit einem Nachruf auf den verstorbenen Zentrumsabgeordneten Breuer. Tagesordnung: Fortsetzung der Kolonialdebatte. Stellvertretender Kolonialdirektor Dernburg erklärt gegenüber dem Abgeordneten Bebel: Die Pensionierung des Geheimrats Hellwig sei lediglich erfolgt, weil er den steigenden Anforderungen seines Amtes nicht mehr gewachsen war (Stürmische Rufe: Hört, hört, Lärm bei den Sozialdemokraten) und das um so mehr, als zugleich mit dem Wechsel im System der Verwaltung der Kolonialabteilung auch ein Personenwechsel erforderlich erschien. (Stürmische hört, hört!) Es sei hiernach nicht glaubhaft, daß der verstorbene Staatssekretär Freiherr von Richthofen entgegen dem wirklichen Sachverhalt die Pensionierung Hellwigs mit der Gegnerschaft der parlamentarischen Freunde des Dr. Peters begründet haben soll. (Hört, hört! links.) Weiter bezeichnet der Kolonialdirektor es als unrichtig, daß Pöplau lediglich (Lauter Lärm links; Rufe: lediglich!) lediglich aus den von dem Abgeordneten Ablaß angegebenen Gründen zur Rechenschaft gezogen worden sei. Pöplau habe sich schon vorher verschiedene Disziplinarstrafen zuschulden kommen lassen. Er sei schon vorher dreimal deshalb bestraft worden. Es sei keineswegs scharf ge- [Fortsetzung nächste Seite Scan der Originalseite auf Server der UB-Freiburg Freiburger Zeitung, 05.12.1906, 1. Blatt, 2. Seite [Fortsetzung von voriger Seite] gen ihn vorgegangen worden, vielmehr habe er eine äußerst milde Behandlung erfahren mit Rücksicht auf die Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit. (Erneute große Unruhe bei den Worten: milde Behandlung.) Abg. Roeren (Zentr.) geht auf die Vergehen der Beamten in den Kolonien ein, bei denen es sich insbesondere um den grausamen Vollzug der Prügelstrafe handle. Die Schilderungen rufen bei der Linken lebhafte Unruhe hervor. Das richterliche Verfahren leide vor allem darunter, daß die Richter nunmehr Verwaltungsbeamte seien, und daß die Schwarzen vor Gericht zu sehr eingeschüchtert würden. Der Redner schildert dann Verfehlungen des Stationsvorstandes Schmidt gegen minderjährige Negerinnen und das Verfahren, welches gegen die Missionare eröffnet wurde, als sie Schmidt wegen seiner Vergehen anzeigten. Die Missionare seien früh morgens aus ihren Betten geholt und 21 Tage lang wegen Fluchtverdachts gefangen gehalten worden, weil sie eine falsche Beschuldigung gegen Schmidt erhoben hätten. Die meisten Beamten, die solche Verfehlungen begangen hätten, seien noch jetzt im Amte. (Unruhe.) Da müsse man sich sagen: darf man für eine solche Entwicklung der Kolonien noch einen Pfennig bewilligen? (Lebhafte Zustimmung links.) Präsident Graf Ballestrem bezeichnet die Angaben Roerens, daß im Hause des Reichstages eine Untersuchung stattgefunden habe, als unrichtig. Der Untersuchungsrichter habe in Begleitung des Abgeordneten Erzberger des Haus besucht. Er habe aber Anweisung erteilt, daß polizeiliche oder gerichtliche Handlungen im Reichstag ohne seine Erlaubnis nicht zuzulassen seien. Es sei nur der Gewalt zu weichen. (Beifall.) Kolonialdirektor Dernburg wendet sich gegen die Ausführungen des Abgeordneten Bebel. Er habe niemand Material wegnehmen wollen, aber dadurch, daß man ihm den Fall nicht mitgeteilt habe, seien die Beschuldigungen gegen die Beamten 48 Stunden unwidersprochen ins Land gegangen. Ueber das Ergebnis der Untersuchungen werden Sie hören. Bebel meinte, dem Dr. Seitz werde der gute Glaube zugute kommen. Wenn Bebel das Wort „guter Glaube“ aus seiner Sprache streichen wolle, so gebe es keinen Ausdruck, um die Rede Bebels am Samstag zu rektifizieren. Die Beschuldigungen gegen Dr. Kersting seien, soweit sich die Sache übersehen lasse, völlig unbegründet. Bezüglich Wistubas habe Abgeordneter Roeren geäußert, wenn die Angelegenheit nicht im Sinne des Zentrums erledigt werde, so werde dieses keine Mittel mehr für die Kolonien bewilligen. (Lebhafte allgemeine Unruhe, Zurufe.) Wenn ich mein Amt nicht im Ernst und in Ehren führen kann, so werde ich gehen. (Bewegung; Zuruf links: Tun Sie das!) Die Unterstützung der Missionen bleibt eine unserer größten Aufgaben in den Kolonien. Abg. Dr. Arendt (Reichsp.): Dem Direktor des Reichstags schulde man Dank für seine Haltung bei der Haussuchungsangelegenheit. Die Anschuldigungen gegen die Beamten und die ungünstigen Berichte über die Kolonien würden meist leichtfertig aufgestellt. Redner geht dann näher auf den Fall Peters ein, insbesondere den Tuckerbrief. Es sei seine Aufgabe, die Ehre des unschuldig Angegriffenen zu verteidigen. (Lebhafte Unruhe links. Zuruf Bebels: Die Ehre eines Verbrechers. Glocke des Präsidenten.) Präsident Graf Ballestrem ersucht, den Redner nicht immer zu unterbrechen. Die Verhandlungen kämen so nie zu einem Ende. Kolonialdirektor Dernburg polemisiert zunächst gegen die Ausführungen des Abgeordneten Bebel sowie diejenigen des Abgeordneten Roeren. Herr Roeren habe versucht, richterliche Funktionen zu beeinflussen. In einem Briefe an den Reichskanzler habe Herr Roeren darauf gedrungen, daß das Disziplinarverfahren gegen Wistuba eingestellt werde. Nun aber das stärkste. In einer zeugeneidlichen Vernehmung in Sachen Wistuba am 12. Februar hat ferner Roeren erklärt, wenn die Wistubaangelegenheit nicht nach dem Wunsche des Zentrums erledigt werde, so werde das Zentrum genötigt sein, nichts mehr für die Kolonien zu bewilligen. Redner bespricht dann noch die Missionsfrage. Abg. Arendt (Rp.) hofft, daß der Kolonialdirektor mit allen Grausamkeiten ein Ende machen wird. Redner bespricht alsdann den Fall Peters. Nach einer Bemerkung des Abg. Eickhoff (frs. Vp.) nimmt Abg. Roeren (Z.) das Wort: Die Veröffentlichung der Briefe zwischen dem Reichskanzler und mir vorhin durch den Kolonialdirektor ist ein großer Vertrauensbruch. Völlig unwahr ist es, daß ich jemals die Erledigung der Wistuba-Angelegenheit zur Bedingung gemacht habe für Entschließungen des Zentrums zum Kolonialetat. Wie kann der Kolonialdirektor eine solche Unwahrheit sprechen – vielleicht weil ein dummer grüner Assessor mich nicht verstanden hat. Herr Kolonialdirektor! Nach Ihrer ganzen Vergangenheit sind Sie gar nicht fähig, mich bloß zu stellen. Wenn man solche Unwahrheiten äußert wie Sie, dann zeugt das von einem niedrigen Gewissen. Ich verbitte mir für die Zukunft jede solche Anrempelei. (Lebhafter Beifall im Zentrum.) Unterstaatssekretär, Chef der Reichskanzlei v. Loebell erklärt, er habe dem Kolonialdirektor von seinem Briefwechsel mit dem Abgeordneten Roeren keinerlei Mitteilung gemacht. Die betreffenden Briefe seien in der Germania veröffentlicht worden. Kolonialdirektor Dernburg bleibt gegenüber dem Vorredner bei seinem Urteil über Wistuba und bemerkt: Was hätte ich denn auch für eine Veranlassung, schuldige Beamte in Schutz zu nehmen. Ich habe ja nur eine Zukunft, keine Vergangenheit. Die Briefe, die Herr Roeren an den Reichskanzler gerichtet hat, waren ganz offiziell. Ich will noch Einiges verlesen. Am 14. November 1904 schreibt Herr Roeren an den Reichskanzler, er möchte die in Togo und Kamerun schwebenden Verhandlungen einstweilen sistieren. Also er verlangt vom Reichskanzler, er solle in eine schwebende Sache eingreifen. Auch noch in einem anderen Schreiben handelt es sich um die Veranlassung eines ähnlichen Eingreifens. Weiter konstatiert Redner, daß sogar der Missionschef in Togo, der Vertrauensmann der Regierung, es für richtig gehalten habe, einen bestimmten Missionar fortzuschicken. Alle die Dinge, die er verlesen habe, würden nicht wieder vorkommen. Ich habe, als ich diese Akten gelesen, die Eiterbeule aufgestochen, gleichviel, was für mich daraus folgt. (Stürmischer Beifall rechts.) Nach einer Geschäftsordnungsdebatte, während derer der Abg. Singer (Soz.) fragt, wann die Verantwortung der Fleischnotinterpretation zu erwarten sei, wird beschlossen, einstweilen die Poleninterpellation noch nicht auf die Tagesordnung zu setzen, sondern die Kolonialdebatte fortzusetzen.Zur Übersicht 1906 der Pressedokumentation | Scan der Originalseite auf Server der UB-Freiburg | nach oben |