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*Dieser Beitrag erschien mit anderer Bebilderung zuerst in iz3w Nr. 307 - Juli / August 2008, S. 22-25.

Tonbeispiel eines madagassischen Scherzliedes, aufgenommen in Wünsdorf Lautarchiv

 

siehe auch die Beiträge:

Britta Lange: Der Rassenkundler Egon von Eickstedt und sein Gastspiel in Freiburg (1921- 1923) Mehr

Zum Halbmondlager bei Wünsdorf, der Forschungsstätte v. Eickstedts, siehe auch den Film The Halfmoon Files (2007) Film-Website

Christoph Seidler: »Opfer ihrer Erregungen« - Die deutsche Ethnologie und der Kolonialismus (2004) Zum Text

Andreas Flamme (2007): Der Kolonialwissenschaftler Karl Dove und seine Zeit an der Universität Freiburg Mehr

 

Basel 2009: Ausstellung und Begleitprogramm - "What We See" - Bilder, Stimmen, Repräsentation. Zur Kritik einer anthropometrischen Sammlung aus dem südlichen Afrika Mehr

 

 

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Anthropologie, Kolonialismus und "Rassenforschung" | Zur DRUCKVERSION (pdf)


Die Welt im Ton - In deutschen Sonderlagern für Kolonialsoldaten entstanden ab 1915 einzigartige Aufnahmen

Es ist kaum bekannt, dass in deutschen Kriegsgefangenlagern während des Ersten Weltkriegs Afrikaner und Asiaten interniert waren. Es handelte sich um Soldaten, die Großbritannien und Frankreich aus ihren Kolonien geholt hatten, um sie in Europa als ‚Kanonenfutter’ kämpfen zu lassen. Das Verhältnis der Deutschen zu den gefangen genommenen Kolonialsoldaten war zwiespältig: Einerseits wollte man sie zu Verbündeten machen, andererseits empfand man sie als Bedrohung. Vor allem aber beforschte man sie ganz im Geiste der seinerzeitigen Rassenlehren. Auf diese Weise entstanden im Lager Wünsdorf bei Berlin Tonaufnahmen, die vielerlei Geschichten dokumentieren: jene von rassistischer Unterwerfung ebenso wie von subtilem Widerstand. Im Rahmen unserer fortlaufenden Reihe zum deutschen (Post-)Kolonialismus beschreibt Britta Lange, wie es zu diesen Aufnahmen kam und welches Potenzial sie bergen.

von Britta Lange*

»Der deutsche Kaiser ist sehr klug.
Er macht mit allen Königen Krieg.
Wenn der Krieg zu Ende ist,
werden viele Erzählungen gemacht werden.
In Indien ist der Engländer der Herrscher.
Wir wussten nichts
von irgendeinem anderen König.
Als der Krieg begann,
da hörten wir von mehreren Königen.
In Indien ist dies ein Problem:
Das Volk weiß nichts.«

Nach diesem Text, gesprochen von einer »hellen Mittelstimme mit genügender Konsonanz«, wie der betreuende Wissenschaftler vermerkt, folgt ein Pfeifton, der den Schluss der Tonaufnahme anzeigt. Er markiert das Ende von einer der 1.650 Wachsplatten, die zwischen 1915 und 1918 in deutschen Kriegsgefangenenlagern aufgenommen wurden. Die Platte trägt die Registernummer PK 610. In Form einer Schellackplatte und einer digitalen Überspielung lagert sie heute im Lautarchiv an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo zu jeder Tonaufnahme auch eine – mehr oder weniger ausführliche – schriftliche Dokumentation vorhanden ist. [1] Dem Personalbogen zu der Platte mit der Nummer PK 610 ist zu entnehmen, dass der Sprecher Sib Singh heißt, 26 Jahre alt ist, aus der Nähe von Amritsar im Punjab (Indien/ Pakistan) stammt und die »Erzählung mit Gesang« in Punjabi, seiner Muttersprache, vorträgt. Die Aufnahme fand am 9. Dezember 1916 um 5.15 Uhr statt – im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf nahe Berlin.

»Menschenfresser« in Sonderlagern
Wie kam es überhaupt dazu, dass im Jahr 1915 ein indischer Sikh in einem deutschen Kriegsgefangenenlager in den Trichter eines Grammophons sprach? Hintergrund für die groß angelegte Tonsammlung im Ersten Weltkrieg war die weltpolitische Situation: Das Deutsche Reich und seine Bündnispartner (Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien) kämpften 1915 gegen die Armeen Belgiens, der Entente-Staaten England, Frankreich und Russland sowie gegen Soldaten aus den von der Entente abhängigen und kolonialisierten Ländern in Afrika, Asien und Ozeanien. Da die Kolonialsoldaten oftmals als »Kanonenfutter« benutzt und an die vorderste Frontlinie geschickt wurden, kamen viele von ihnen um. Überlebende wurden in die Gefangenenlager der so genannten Mittelmächte gebracht. Während in den österreichisch-ungarischen Lagern vor allem Gefangene von der Ostfront, also Soldaten aus der russischen Armee landeten, gelangten in deutsche Lager auch Gefangene von der Westfront in Flandern und später Frankreich.

Die Präsenz von kämpfenden Afrikanern, Asiaten, Neuseeländern und vielen anderen in Europa führte auf deutscher Seite zu heftigen Reaktionen. Bereits kurz nach Kriegsausbruch gingen reißerische Artikel durch die deutsche Presse, in denen auf die Verwendung von »Menschenfressern« in den gegnerischen Armeen verwiesen wurde. Sie legten den Entente-Staaten den Einsatz von Kolonialsoldaten als militärische Schwäche aus und behaupteten eine Verletzung des Völkerrechts. Die Gründe für den starken öffentlichen Reflex lagen jedoch nicht nur in der propagandistischen Absicht, die Kriegsgegner zu destabilisieren, sondern reichten tiefer. Hauptanklagepunkt vieler Autoren war die Tatsache, dass die »Kulturvölker« der Franzosen und Engländer sich der Hilfe von so genannten »Naturvölkern« – Völkern ohne Industrie, Schrift und Geschichtsschreibung – bedienten, um das »Kulturvolk« der Deutschen zu bekämpfen. Diese Konstellation durchbrach die bis 1914 herrschende imperiale Weltordnung, nach der die selbst ernannten »Kulturvölker« darin paktierten, die »Naturvölker« zu unterwerfen, und sich als am weitesten »fortgeschrittene« Menschen verstanden, die die Welt »rechtmäßig« beherrschen durften.

Die vor allem von deutschen Autoren betriebene Skandalisierung des Einsatzes von Kolonialsoldaten in den ersten Kriegsjahren zeugte also nicht nur von einer wachsamen Propagandamaschine, sondern auch von einer grundlegenden Angst vor dem Zusammenbruch eines Herrschaftssystems. So entwarf etwa Karl Weule, Direktor des Leipziger Völkerkundemuseums, in einem 1915 veröffentlichten Artikel folgendes Szenario: »Bisher war die Vorherrschaft dieser weißen Rasse über alle anderen unbezweifelt und unantastbar. Durch Englands Hereinziehen der Japaner [...] ist sie es nicht mehr. [...] Aber noch viel schwerer und verhängnisvoller ist das Rasseverbrechen der Engländer und Franzosen bei den Schwarzen. [...] Wie will England es verantworten, daß es deutsche Männer im Bismarck-Archipel vor Schwarzen oder gar durch Schwarze hat auspeitschen lassen? [...] die Frage erhebt sich schon jetzt mit furchtbarem Drohen, wie fernerhin jede europäische Macht, und so auch wir, eine farbige, niedrigere Rasse beherrschen sollen, der jede Achtung und jede Ehrfurcht vor dem bisher vergötterten Weißen durch ein System von Maßnahmen genommen worden ist, wie sie unsere Gegner beliebt haben.« [2]

Aufruf zum Djihad
Während der Einsatz der »farbigen Hilfsvölker« auf breiter publizistischer Front gegeißelt wurde, hatten Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes bereits im Herbst 1914 eine zunächst geheim gehaltene politische Strategie zur Vereinnahmung jener Kolonialsoldaten entworfen. Max Freiherr von Oppenheim, ein Orientexperte, Hobbyarchäologe und Diplomat, wurde kurz nach Kriegsausbruch zum Leiter der neu eingerichteten Nachrichtenstelle für den Orient im Auswärtigen Amt ernannt. Im Oktober 1914 verfasste er eine »Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde«. Darin forderte er, das mit den Deutschen verbündete Osmanische Reich möge den Djihad, den Heiligen Krieg, gegen die Feinde des Deutschen Reiches ausrufen, was im November 1914 auch geschah. Weiter empfahl Oppenheim, die muslimischen Kolonialsoldaten, die in deutsche Gefangenschaft gerieten, in besonderen Gefangenenlagern zusammenzufassen. Dort sollten sie von ausgesuchten Persönlichkeiten, etwa Angehörigen der türkischen Botschaft in Berlin, indoktriniert und zum Überlaufen bewegt werden. Die Überläufer würden dann in ihre Heimat zurückgeschickt, um dort ihre Landsleute gegen die Kolonialherren England und Frankreich aufzuwiegeln. Letztendliches Ziel war ein revolutionärer Umsturz in den jeweiligen Ländern, der im Einklang mit dem Djihad des Osmanischen Reiches stand. Eine ähnliche Strategie sollte auch auf Nicht-Muslime, etwa indische Hindus und Sikhs, angewendet werden, die sich gegen die britische Kolonialmacht auflehnen sollten. Denn, so Oppenheim, »von den zu revolutionierenden Ländern ist im Hinblick auf den Enderfolg des Krieges Indien das weitaus wichtigste«.

Oppenheim machte aufgrund seiner Auslandserfahrungen ausführliche Vorgaben über die Behandlung der Kriegsgefangenen: »Die muhammedanischen Gefangenen wären in ihrem Lagerplatz gut zu behandeln, auch im Hinblick darauf, dass sie aus südlichen heißen Gegenden kommen. Man sollte ihnen eine kleine Moschee einrichten, was leicht durch einen billigen Bretterbau möglich ist, ferner eine Gelegenheit zur Verrichtung ihrer religiösen Waschungen.« Das deutsche Kriegsministerium folgte dieser Empfehlung und richtete bereits im Herbst 1914 provisorische Gefangenenlager in Wünsdorf südlich von Berlin ein. Ab November 1914 entstanden daraus das »Halbmondlager« in Wünsdorf, in dem vor allem Muslime aus Nord- und Westafrika und Indien sowie indische Hindus und Sikhs interniert wurden, und einige Kilometer entfernt das »Weinberglager« bei Zossen, in dem vor allem Muslime aus Russland, vorwiegend Tartaren, untergebracht wurden.

Die Gefangenen erfuhren in den politischen »Sonderlagern« tatsächlich eine besondere Behandlung. Sie durften ihre religiösen Praktiken ausüben und erhielten eine ihren Vorschriften entsprechende Ernährung. Fotos zeigen Internierte in Zossen und Wünsdorf beim Beten, beim Lesen, bei sportlicher und kunsthandwerklicher Betätigung. Ein im Bundesfilmarchiv erhaltener kurzer Film über das »Bayramfest im Mohammedaner-Gefangenenlager« aus dem Jahr 1915 zeigt neben ethnografischen Szenen – wie traditionellen Tänzen – Inder bei der Schlachtung von Hammeln, was die gute Versorgungslage demonstrieren sollte. Doch diese Dokumente hatten immer auch einen propagandistischen Zweck und sind daher nicht als »die Wahrheit« über die Zustände in den Lagern zu interpretieren. Diese blieben trotz aller Sondereinrichtungen Gefangenenlager, in denen die Internierten weitgehend entrechtet waren. Berichten aus den Jahren 1916 und 1917 etwa ist zu entnehmen, dass in den Sonderlagern ebenso wie in anderen Gefangenenlagern Seuchen grassierten. Auf dem Friedhof bei Wünsdorf wurden während des Ersten Weltkrieges Hunderte Kriegsgefangene begraben, die in den Lagern verstorben waren.

Filmische Machwerke
Wurden die bereits Ende 1914 eingeleiteten politischen Maßnahmen in den Sonderlagern zunächst vertraulich behandelt, ließ sich zugleich der Umstand, dass darin Hunderte von »exotischen« Menschen untergebracht waren, vor der Öffentlichkeit nicht verbergen. Fotos zeigen, dass Berliner BürgerInnen mit dem Zug anreisten, um die Gefangenen wie in einer Art Völkerschau zu besichtigen – ebenso wie bereits während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 KölnerInnen Wochenendausflüge zu den Lagern in Köln-Wahn gemacht hatten, um die kriegsgefangenen schwarzen Soldaten aus der französischen Armee zu begutachten. [3]
Auf die Spitze getrieben wurde die massenhafte Schaulust im Ersten Weltkrieg durch die Benutzung von Kriegsgefangenen aus Wünsdorf für die Herstellung von kolonialen Spielfilmen. Die im Jahr 1917 gegründete Deutsche Kolonialfilm-Gesellschaft (Deuko) hatte sich zur Aufgabe gemacht, »koloniale Filmdramen spannenden Inhalts und gesunder Tendenz« herzustellen – in der Überzeugung, »dass Kolonien für die Heimat von ungeheurer Wichtigkeit sind«. [4]

Bis 1919 produzierte die Deuko sieben Filme für die Inlandspropaganda: einen Trickfilm für die Kriegsanleihewerbung und sechs Spielfilme. Mit dem Griff zu fiktionalen Filmen unterschied sie sich deutlich von den früheren Bemühungen, Kolonialpropaganda im Film zu betreiben. Zwischen 1900 und 1914 hatte die Deutsche Kolonialgesellschaft vor allem auf kurze Dokumentarfilme gesetzt, die die Erfolge deutscher Kolonialpolitik in Afrika und Asien darstellten. [5] Die Kolonien als idyllische Ersatzheimat zeigten im größeren Stil erst die Machwerke der Deuko. In ihrem ersten, im August 1917 uraufgeführten Spielfilm »Der Verräter« heiratet ein junger Brite die Tochter seines deutschen Chefs (einer Überseefirma) und geht mit ihr nach Afrika, wo er aber für die Engländer spioniert und bei einer Verfolgungsjagd sterben muss. In »Farmer Borchardt«, dem zweiten Deuko-Film, wird der Aufstand der Hereros im Jahr 1904 gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) thematisiert und mit einer tragischen Affäre um Liebe, Verrat und Vaterlandstreue kombiniert.

In dem franzosenfeindlichen Film »Der Gefangene von Dahomey« (1918) schließlich geht es um einen in Afrika lebenden deutschen Pflanzer, der bei Kriegsausbruch in französische Gefangenschaft gerät und von einem französischen Capitain grausam gequält, jedoch von dessen Gattin errettet wird. Die Lagerszenen wurden 1918 im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf gedreht; die schwarzen Aufseher mussten französische Kriegsgefangene darstellen. Dem Kinopublikum wurden diese Fakten weder im Film noch durch die Presse mitgeteilt. Damit blieb der deutschen Öffentlichkeit auch die Perversion dieser Situation verborgen: dass französische Gefangene in deutschen Lagern zur Darstellung von französischen Peinigern gefangener Deutscher in Afrika herangezogen wurden.
Um die öffentliche Spektakularisierung der fremdländischen Gefangenen unmittelbar nach Kriegsausbruch wiederum propagandistisch zu nutzen, ließ die deutsche Regierung rasch eine hölzerne Moschee im Halbmondlager errichten, die im Juli 1915 eingeweiht wurde. Es handelt sich um die erste Moschee in Deutschland, die nicht nur zu dekorativen, sondern tatsächlich zu religiösen Zwecken genutzt wurde. [6] Postkarten der Moschee, die tausendfach vertrieben wurden, reihten sich einerseits in die allseits bekannten exotischen Motive auf Kolonialpostkarten ein und sollten andererseits aller Welt beweisen, wie vorbildlich und liberal das Deutsche Reich seine Gefangenen behandele. Damit stellte sich das Reich zugleich als eine Art »guter Kolonialherr« dar, zu einem Zeitpunkt, als es seine Kolonien in Afrika und Asien bereits militärisch hatte aufgeben müssen.

Die Welt zu Gast im Lager
Das Argument, über die politischen Sonderlager auch eigenes deutsches Personal für eine künftige deutsche Kolonial- und Weltherrschaft heranbilden zu können, bemühten nicht nur Regierungsmitglieder, sondern auch Wissenschaftler. Im Herbst 1915 wurde, einem Antrag des Sprachwissenschaftlers Wilhelm Doegen an das Kultusministerium folgend, eine Königlich Preußische Phonographische Kommission gebildet. Sie erhielt unbegrenzten Zugang zu den deutschen Kriegsgefangenenlagern, um dort wissenschaftliche Tonaufnahmen von den Sprachen und der Musik möglichst vieler »fremder Völker« herzustellen. Der Vorsitzende Carl Stumpf, zugleich Begründer des Berliner Phonogrammarchivs (1900), der mit der praktischen Durchführung beauftragte Lehrer Wilhelm Doegen sowie verschiedene ehrenamtliche Mitglieder bereisten zwischen Dezember 1915 und Dezember 1918 etwa dreißig deutsche Kriegsgefangenenlager und stellten dort mit dem Phonographen 1.030 Wachswalzen mit Musikaufnahmen her. Unter Verwendung des Grammophons entstanden außerdem die oben erwähnten 1.650 Wachsplatten mit Sprach- und Musikaufnahmen von über 250 verschiedenen Dialekten und Sprachen.

Ziel der Kommission war nicht nur die Schaffung eines Sprachenarchivs und dessen Nutzung zur Vermittlung der »Kolonialsprachen«, sondern auch die wissenschaftliche Erforschung kaum bekannter Sprachen sowie der Vergleich von Sprachen und Dialekten untereinander. Die Kriegsgefangenenlager boten sich für diese Zwecke an, da in ihnen Vertreter vieler verschiedener Ethnien verfügbar waren. Sie ermöglichten, im Gegensatz zu den teuren und mühseligen Expeditionen in einzelne ferne Länder, vergleichende Studien vor Ort. Der Weltkrieg brachte die »Welt« ins Deutsche Reich – und deutsche Wissenschaftler erkannten schnell die Möglichkeit, daraus ein »Weltarchiv« zu schaffen. [7] Besonders interessant erschien die Situation in den beiden Wünsdorfer Lagern, da dort die »exotischsten« Ethnien vertreten waren: Fast 500 der 1650 Sprachplatten entstanden im Halbmond- und im Weinberglager.

Auch ein großer Teil der im Ersten Weltkrieg angestrebten anthropologischen Messungen wurde in den Berliner Sonderlagern durchgeführt. Innerhalb der Phonographischen Kommission war Felix von Luschan, Direktor des Berliner Völkerkundemuseums, zum Experten für Ethnologie benannt worden. Er leitete außerdem physische Untersuchungen an den Internierten. Sein Doktorand Egon von Eickstedt etwa vermaß im Halbmond-Lager speziell die indischen Sikhs, um so genannte »Rassenelemente« ausfindig zu machen – physische Merkmale bzw. Konstellationen von Merkmalen, deren Kombination wiederum auf einen menschlichen »Rassetyp« schließen lassen sollte. Seine in Anlehnung an die zeitgenössische anthropologische Rassenlehre verfasste Doktorarbeit [8] begründete seine Karriere, die 1933 zu einem Lehrstuhl für physische Anthropologie in Breslau führte. Obwohl sich aus den Messdaten der Gefangenen keine empirischen Ergebnisse ableiten ließen, verhalf ihre Erhebung und tendenziöse Auslegung auch anderen deutschen und österreichischen Nachwuchswissenschaftlern zum akademischen Aufstieg. Zeitgenössische Rassentheorien bildeten auch die Grundlage mancher Sprachforschungen an den Gefangenen: So versuchte der Indologe Heinrich Lüders, über das Studium von Dialekten das Verhältnis von »arischen« und »nicht-arischen« Völkern in Nepal zu klären.

cover eickstedt

Titelseite von: "Rassenelemente der Sikh.

Mit einem Anhang über biometrische Methoden.

Von Dr. Egon von Eickstedt, Assistent am geographischen Institut Freiburg i. Br."

Das Porträt wurde in einem Kriegsgefangenenlager aufgenommen - und dem Buch "Unsere Feinde" entnommen. [8]

Zu der Skandalisierung, der Spektakularisierung und der politischen Benutzung der Kriegsgefangenen nicht-christlicher Religionen trat also ab Ende 1915 auch ihre als wissenschaftlich geltende Nutzung, die bis nach Kriegsende streng geheim gehalten wurde. Die Auswertung des aufgezeichneten Materials verschoben die in die Kommission berufenen Experten – unter anderen Musikwissenschaftler, vergleichende Sprachwissenschaftler, Indologen, Afrikanisten, Anglisten, Romanisten – auf die Nachkriegszeit. Nach dem Krieg zerfiel die Sammlung jedoch: Die Musikaufnahmen auf Wachswalzen wurden ins Berliner Phonogrammarchiv im Ethnologischen Museum integriert; die Sprachaufnahmen auf Wachsplatten dagegen bildeten den Grundstock der Lautabteilung an der Preußischen Staatsbibliothek. So entstanden auch in den folgenden Jahrzehnten nur wenige wissenschaftliche Arbeiten, die aus dem gesammelten Material schöpften. Ein 1925 von Doegen herausgegebenes Buch versammelte unter dem Titel »Unter fremden Völkern« Aufsätze zur »Kultur« einzelner Ethnien. Eine umfassende Sprach-, Musik- oder Kulturtheorie – die zwangsläufig auf den herrschenden Vorstellungen über die menschlichen »Rassen« basiert hätte – wurde indes nicht formuliert.

Die Tonsammlungen und ihre Dokumentationen selbst jedoch existierten weiter. Nach Kriegsende wurden alle originalen Wachsplatten auf Matrizen, also Negative, überspielt, von denen dann beliebig viele Positive in Form von Schellackplatten hergestellt werden konnten. Nur ein kleiner Teil der Tonaufnahmen jedoch wurde mit begleitenden Broschüren in den 1920er und 1930er Jahren publiziert. Bis heute ist außerhalb von Deutschland nicht bekannt, dass solche Tonaufnahmen überhaupt in einem deutschen Archiv existieren – ein Effekt jener verdrehten »Welt«-Geschichte: Die »Welt« kam im Ersten Weltkrieg ins deutsche Archiv, doch die Nachkommen jener Sprecher sind weder darüber informiert noch ist ihnen ermöglicht worden, die Tonaufnahmen zu hören. Ein Projekt des Berliner Lautarchivs – zu dem gegenwärtig die Mittel fehlen – müsste es daher sein, seine Sammlung weltweit bekannt und zugänglich zu machen, um so die historische »Welt« der heutigen »Welt« zu öffnen.

Eine, zwei, viele Erzählungen
Beschäftigt man sich heute mit den fast vollständig erhaltenen Tonaufnahmen aus Wünsdorf, wie Philip Scheffner und ich es gemeinsam für das Ausstellungsprojekt »The Making of ...« [9] getan haben, so stellt man fest, dass nur wenige Sprachaufnahmen übersetzt sind. Dabei hatte sich die Phonographische Kommission zur Aufgabe gemacht, zu jeder Tonaufnahme neben dem Personalbogen drei Umschriften anzufertigen: eine Niederschrift in der Landessprache (Sprachtext), eine in phonetischer Umschrift und eine deutsche Übersetzung. Unter den übersetzten Texten, etwa von indischen Sikhs, finden sich vor allem traditionelle Erzählungen, Märchen und Lieder. Persönliche Zeugnisse, die etwa den Weg der indischen Soldaten aus der britischen Armee – meist von Indien über Frankreich nach Deutschland – beschreiben, sind rar. Es scheint, als seien gerade Erlebnisberichte eher nicht übersetzt worden, da die Wissenschaftler vor allem traditionelle, als »typisch« geltende Texte sammelten. Eine Sachlage, die dazu anregt, mit den Tonaufnahmen zu arbeiten. Ihre Besonderheit liegt auch darin, dass Gefangene in der erzwungenen Situation – während der Prozedur einer von deutschen Wissenschaftlern geleiteten Tonaufnahme im Gefangenenlager – ihre Geschichten erzählten. Geschichten, die somit auch Dokumente des individuellen Widerstands gegen diese Zwangslage sind.

Eine der größten Potenziale der Berliner Tonsammlung liegt somit im Herausfiltern von Erzählungen, die eine andere Perspektive auf einen Teil deutscher Geschichte ermöglichen, und im Hörbarmachen von Stimmen jener, die eine zum Schweigen verurteilte Seite einer deutschen Geschichtsschreibung darstellen. Sib Singhs Vermutung 1916 im Wünsdorfer Lager, »wenn der Krieg zu Ende ist, werden viele Erzählungen gemacht werden«, hat sich bewahrheitet. Es sind viele Geschichten über den Ersten Weltkrieg geschrieben worden, einige davon auch über die Situation der Sonderlager. Was nach wie vor fehlt, sind genau jene Geschichten, die die Internierten erzählten – nicht nach dem Krieg, sondern währenddessen. Geschichten, die in ein Spannungsverhältnis mit der traditionellen deutschen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg treten.

Zur Autorin: Das aktuelle Forschungsprojekt von Britta Lange lautet "Gefangene Stimmen. >Fremde Völker< in historischen Tonaufnahmen am Beispiel der deutsch-österreichischen Kriegsgefangenenprojekte 1915-1918". Es geht von dem historischen Befund aus, dass Egon von Eickstedts und Felix von Luschans Aktivitäten im Ersten Weltkrieg eingebunden waren in eine breite anthropologisch-ethnologische Forschungstätigkeit in den Kriegsgefangenenlagern. Es wird durchgeführt an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, Forschungsstelle Sozialanthropologie. Kontakt: britta.lange@oeaw.ac.at Zum Seitenanfang

Anmerkungen:

[1] Die Homepage des Berliner Lautarchivs (http://publicus.culture.hu-berlin.de/lautarchiv/) stellt einige Hörbeispiele bereit. Im Katalog der Sammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin können die Tonaufnahmen nach verschiedenen Kategorien wie der Sprache recherchiert werden: www.sammlungen.hu-berlin.de

[2] Karl Weule: »Die farbigen Hilfsvölker unserer Gegner. Eine ethnographische Übersicht«, 2 Teile, in: Kosmos, Bd. 12, 1915, Nr. 6, S. 205-209; Nr. 7, S. 249-253, hier Teil 2, S. 253

[3] Vgl. etwa »Das Zeltlager der französischen Kriegsgefangenen auf der Wahner Haide bei Köln«, in: Kölnische Zeitung, 22.9.1870

[4] Martin Steinke: »Koloniale Propaganda-Filme«, in: Deutsche Kolonialzeitung. Organ der Deutschen Kolonialgesellschaft, Jg. 34/35, 1917/18, S. 137 (= Nr. 9/1917, 20.9.1917)

[5] Zu den Aktivitäten der Deutschen Kolonialfilm-Gesellschaft siehe Wolfgang Fuhrmann: Propaganda, Sciences, and Entertainment. German Colonial Cinematography: A case study in the history of early nonfiction cinema, Diss. Phil. Universität Utrecht, 2003

[6] Vgl. hierzu vor allem Gerhard Höpp: Muslime in der Mark – Als Kriegsgefangene und Internierte in Wünsdorf und Zossen, 1914-1924, Berlin 1997; Margot Kahleyss: Muslime in Brandenburg. Kriegsgefangene im 1. Weltkrieg, hg. vom Museum Europäischer Kulturen, 2. Aufl., Berlin 2000

[7] Vgl. Britta Lange: »Ein Archiv von Stimmen. Kriegsgefangene unter ethnografischer Beobachtung«, in: Nikolaus Wegmann/Harun Maye/ Cornelius Reiber (Hg.): Original/Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, S. 317-341

[8] Egon von Eickstedt: »Rassenelemente der Sikh«, in: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 52, 1920/21, S. 317-394

[9] »The Making of ...«, ein Ausstellungsprojekt von Britta Lange und Philip Scheffner, Kunstraum Kreuzberg / Bethanien, 15.12.2007 - 17.2.2008, gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Siehe außerdem den Film »The Halfmoon Files – A Ghost Story« von Philip Scheffner (Video, 87 min. Deutschland 2007). www.halfmoonfiles.de

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