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Dokumentation:

Zum Gesetzentwurf über das Auswanderungswesen

Transkription: Andreas Flamme

Deutsche Kolonialzeitung, 5. Jahrgang, Heft Nr. 3, 5. März 1892, S. 31-33

Das Reichsgesetz über die Auswanderung.

Von Prof. Eugen v. Philippovich

Die Nachrichten, welche über den dem Bundesrat zugegangenen Gesetzentwurf über das Auswanderungswesen an die Öffentlichkeit gedrungen sind, werden in allen Kreisen, die sich seit Jahren um eine Regelung der Auswanderungsverhältnisse bemüht haben, mit Betrübnis und Erstaunen vernommen. Seit fünfzig Jahren quält sich das deutsche Volk um eine Ordnung dieser Angelegenheit; seit fünfundzwanzig Jahren wird sie als eine wichtige Sache des Norddeutschen Bundes bezw. des Deutschen Reiches behandelt und ist sie im Reichstag anhängig. Während dieser ganzen Zeit werden von großen und angesehenen Körperschaften und Vereinen, von Vertretern der Wissenschaft und der Praxis die maßgebenden Fragen in unermüdlicher Wiederholung erörtert und immer und überall widerspruchslos zu dem gleichen Ende geführt: Schutz und Fürsorge werden für die Auswanderer in Anspruch genommen nicht nur durch Beaufsichtigung und Ordnung des Beförderungsvertrages, sondern durch Aufklärung und Leitung der Auswanderer selbst. Endlich kommt der Tag, an dem die Regierung sich zu einer Regelung der Verhältnisse entschließt und siehe da, die wichtigsten und entscheidensten Punkte werden übergangen, man fährt in dem Geleise der bisherigen Gesetzgebung der Einzelstaaten fort, ja es scheint fast, als ob Neigung vorhanden wäre, auf ein verlassenes, totes Geleise, einzulenken, daß wir seit Anerkennung des Grundsatzes der Auswanderungsfreiheit im Schutt einer veralteten Gesetzgebung vergraben geglaubt haben.

Um was handelt es sich bei dem Auswanderungsgesetze? Formell um Herstellung einer Übereinstimmung der widerspruchsvollen Gesetzgebung der Einzelstaaten durch Schaffung eines einheitlichen, überall geltenden Reichsgesetzes, materiell um die Ordnung der überseeischen Beförderung, um die Reichsverhältnisse des den Beförderungsvertrag und, häufig wenigstens, die ganze Auswanderung vermittelnden Agentenwesens und um positive seitens des Reiches zum Schutze und zur Fürsorge für die Auswanderer zu ergreifende Maßregeln. Die formelle Seite ist in ihrer Berechtigung nicht nur durch Reichsverfassung, sondern auch durch die Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände begründet, denn es wird sich kaum jemand zur Verteidigung einer Rechtslage aufwerfen wollen, die in Bayern zur Auswanderung nach Brasilien aufzufordern gestattet, während es in Preußen verboten ist, oder die dem Bremer Rheder, eine Behandlung der Auswanderer erlaubt, die dem Hamburger untersagt ist. In materieller Beziehung beschäftigen sich heute bereits die einzelstaatlichen Gesetze über die Auswanderung mit den Transport- und Agentenverhältnissen, und zwar zum Teil, wie in Baden, Sachsen und anderen Staaten, in durchaus befriedigender Weise, d.h. es sind diejenigen Verfügungen polizeilicher Natur getroffen, welche für die Hintanhaltung eines betrügerischen und den Auswanderer schädigenden Vermittlungsdienstes der Agenten geeignet scheinen. Der dem Bundesrat unterbreitete Entwurf kann in dieser Hinsicht nicht mehr erreichen, als daß die bestgeordnete Gesetzgebung dieser Art nunmehr auch auf zwei Staaten Anwendung findet, die darin noch rückständig sind. Damit ist aber materiell recht wenig geholfen, denn eben auch die beste Gesetzgebung der Einzelstaaten in [Seitenumbruch von 31 auf 32] Bezug auf das Transport- und Agentenwesen kann die Schäden nicht abstellen, über welche wir klagen, und den Nutzen nicht gewähren, den eine rechtliche Regelung der Angelegenheit stiften sollte.

Der Wechsel in den Lebensbedingungen nicht nur in überseeischen Gebieten, die Raschheit und Leichtigkeit der Kommunikation, die Billigkeit der Beförderung, die steigende Beweglichkeit der Bevölkerung überhaupt haben die Auswanderung nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa in den letzten Jahrzehnten gewaltig gesteigert. Nicht bloß Deutsche und Briten sind es, die auswandern, wie ehedem, nein, in mächtigem Strome ergießen sich seit zwei Jahrzehnten auch slavische Völker und die Italiener nach den besiedelbaren Gebieten außerhalb Europas, insbesondere nach Amerika. Diese Gebiete selbst sind zum Teil, wie Nordamerika, nicht mehr im Stande jede beliebige Menge von neuen Zuzüglern ihrer Volkswirtschaft einzuordnen, zum Teil, wie in Südamerika, in einem Zustand unfertiger politischer und rechtlicher Organisation, der dies noch nicht gestattet. Die Gefahren, die seiner Zeit mit der Beförderung verbunden waren, sind durch die Entwicklung der Verkehrsverhältnisse geringer geworden, aber die einer Täuschung über das Auswanderungsziel sind gestiegen. Die Auswanderung an sich ist leichter, das Fortkommen in den überseeischen Gebieten durch deren wirtschaftliche und politische Verhältnisse und die Masse der Einwanderer schwerer geworden. Und angesichts dieser Thatsache, welche die Auswanderungsverhältnisse von Grund aus umgestaltet haben, gelangen wir nach fünfzig- bezw. fünfundzwanzigjähriger Mühe glücklich zu einer einheitlichen Kodifikation der einzelstaatlichen Transport- und Agenturgesetze, welche mit den neuen Fragen des Auswanderungswesens nichts zu thun haben und nichts zu thun haben können! Im Jahre 1849 war ein solches Reichsgesetz, wie es die konstituirende Nationalversammlung beschlossen hatte, ein Verdienst. Heute müsste es eigentlich Bundesrat und Reichstag in aller Stille passieren, damit die Welt nicht erfährt, wie spät und wie unvollkommen wir uns, noch dazu in den Tagen der Kolonialpolitik, der überseeischen Ausbreitung des Deutschtums annehmen.

Im Jahre 1845 hat die preußische Regierung sich mit den anderen deutschen Regierungen in Verbindung gesetzt, um zu erwägen, in welcher Weise man dazu beitragen könne, in Nordamerika „die Bildung dortiger selbstständiger Gemeinden seitens der Deutschen zu erleichtern, zur Aufrechterhaltung und Kräftigung des deutschen Elements in Nordamerika wirksam zu sein“; im Jahre 1856 hat die bayrische Regierung beim Bundestag einen Antrag eingebracht, wonach der deutsche Bund unter Anderem in Aussicht nehmen sollte „die Hinleitung der Auswanderung nach geeigneten Ländern, in welchen die Auswanderer eine sichere Existenz finden und ihre Nationalität sowie der Zusammenhang mit Deutschland nicht verloren gehe,“ wie „die Aufstellung von diplomatischen oder konsularischen Agenten in jenen Ländern, bei welchen die Auswanderer Rat, Schutz und Vertretung finden“. Die Bemühungen waren ohne Erfolg und die deutschen Patrioten, welche jene Bestrebungen unterstützt hatten, klagten über die politische Machtlosigkeit, die das Deutschtum nicht zu stützen gedenke. Seit jener Zeit ist das Deutsche Reich entstanden.

Das Deutschtum auf der Erde hat wiederholt Zeichen gemeinsamen Fühlens und Empfindens gegeben; das Verlangen nach verbindenden Organen ist sichtlich gewachsen; unsere Auswanderung ist gestiegen und ringt im Norden und Süden Amerikas mit fremdnationalen Elementen, mit wirtschaftlichen und rechtlichen Schwierigkeiten. Wieder kommt ein Antrag in betreff des Auswanderungswesens, diesmal von einer deutschen Reichsregierung, vor die Vertreter der Glieder des Bundes, ein Antrag, auf den nicht nur die Freunde einer deutschen Kolonialpolitik, sondern auch die Vielen, die den heimatlos gewordenen Landsleuten den Schutz und die Fürsorge des Reiches wünschen, mit Spannung gewartet haben – und er enthält, soweit ersichtlich als vermutlich Neues nur den Versuch, der Auswanderung wieder eine polizeiliche Fessel anzulegen!

Noch hoffen wir, daß der Gesetzentwurf auf seinem weiteren Wege eine Umgestaltung erfahren wird im Sinne der Bedürfnisse der Gegenwart. Die Regierungen können sich unmöglich der Erkenntnis der Thatsache verschließen, daß die Auswanderung aus Deutschland eine nicht zu ändernde Begleiterscheinung unserer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ist, die bleiben wird, so lange noch außerhalb Deutschlands eine größere wirtschaftliche Bewegungsfreiheit zu finden ist. Und wir können auch keinen Grund finden zur Klage über diese Thatsache. Aus der Geschichte überzeugen wir uns, daß kräftige und lebensfähige Völker zu allen Zeiten nicht blos intensiv, sondern auch extensiv thätig gewesen sind. Ihre Wanderungen haben den Fortschritt der Kultur beschleunigt und die Grundlage des Zusammenlebens bei verschiedenen Völkern gleichartiger gestaltet, aber sie waren auch stets das Mittel, einzelnen Völkern eine besondere Machtstellung zu verschaffen. Nur einem solchen Volke ist eine führende kulturelle und politische Stellung dauernd verblieben, das neben hoher Kultur und fester staatlicher Organisation auch eine starke Ausdehnungsfähigkeit besaß. Mag man übrigens über diesen Ausbreitungsprozeß denken, wie man wolle, er ist da, er ist eine Thatsache und wir fühlen in uns die Verpflichtung, den hunderttausend Deutschen, die in jedem Jahr in die Fremde ziehen, den Stab zu reichen, auf den gestützt sie festeren Mutes ihrem Ziele zustreben können.

In wenigen Fragen besteht zwischen den Meinungen der Parteien so wenig Widerspruch, wie in dieser. Von der freisinnigen Partei bis zu der konservativen Richtung Adolf Wagners – wir erinnern an die Teilnahme Philippsons und Adolf Wagners an dem Kongreß für Handelsgeographie 1880 – ist, soweit überhaupt eine feste Meinung sich gebildet hat, die die beherrschende, daß die Auswanderungsgesetzgebung aus einer bloßen Transport- und Agenturkonzessionsregelung zu einer Organisation positiver Maßnahmen zu erweitern ist. Darunter ist keineswegs eine Organisation der Auswanderung von Staatswegen zu verstehen. Eine solche, wie sie in den letzten Jahren in England von einer starken Partei angestrebt wird und von den Regierungen anderer Staaten einzeln versucht wurde, ist bei uns aus den verschiedensten Gründen unmöglich. Es handelt sich vielmehr nur um die Einführung einzelner Maßnahmen, die ohne Zwang auf die Bedingungen der Auswanderer und ohne besondere materielle Opfer des Staates die Bedingungen der Auswanderung günstiger gestalten. Die in dieser Hinsicht gestellten Forderungen sind: 1. Errichtung eines Auswanderungsamtes bezw. einer besonderen Abteilung des Auswärtigen Amtes zum Zweck der Überwachung, Leitung des gesamten Auswanderungswesens und Berichterstattung über dasselbe, diesem Amte fiele auch die Verbesserung der Auswandererstabilität zu; 2. Aufhebung oder Einschränkung des spekulativen Agententums und Ersatz durch bloße Expedienten der Schiffahrtsgesellschaft einerseits und öffentliche oder vom Reiche unterstützte Auskunftstellen andererseits; 3. für die Zwecke der letzteren Nutzbarmachung der auswärtigen Vertretung des Reiches durch periodische Einziehung von Nachrichten über die für die Auswanderer wichtigsten Lebensbedingungen in den Einwanderungsländern, eventuell Anstellung besonderer Agenten und Korrespondenten für diesen Zweck; 4. Verbindung mit den Behörden der Länder, die für unsere Auswanderung in Betracht kommen zum Zwecke des Schutzes der Rechte unserer Versorgung; 5. daher weiter die Einsetzung von Kommissären in den Einwanderungsländern, welchen das Recht einer Prüfung der Verhältnisse des Schiffstransport, aber vor allem die Pflicht obläge, den eingewanderten Landsleuten mit Ratschlägen an die Hand zu gehen, ihnen bei Regelung ihrer Geldangelegenheiten behülflich zu sein, ihnen Mittel und Wege für ihr Fortkommen zu weisen; endlich 6. Ordnung der Rechtsverhältnisse von Kolonialgesellschaften, welche die Ansiedlung von Auswanderern in geschlossen Gruppen beabsichtigen.

Daß diese Ziele nicht bloß Konstruktionen der Theoretiker, sondern praktisch erreichbar sind, dafür bietet die Gesetzgebung und Verwaltung anderer Länder, der Schweiz, Belgiens, Englands den Beweis. Mit gutem Erfolge wird hier seit mehreren Jahren in den angegebenen Richtungen gearbeitet. Der Nutzen und Wert positiver Maßnahmen steht hier außer Zweifel. Die Auswanderung gilt als eine große öffentliche Angelegenheit, welche Gegenstand der Verwaltung, nicht bloß der Polizei des Staates sein soll. Und durch Beispiele, ließe sich belegen, wie durch diese Einrichtung die Auswanderer der betreffenden Staaten von jener Deutschlands einen gewaltigen Vorsprung voraus haben, all der ideellen Rückwirkungen auf die Heimat gar nicht zu gedenken, die mit jeder Stärkung der Beziehungen zwischen Auswanderung und dem Heimatstaat verbunden sind. Wir können daher nicht glauben, daß gerade in der Zeit, in der anderwärts die ordnende und fürsorgliche Hand des Staates in die internationale Wanderbewegung eingreift und die Landesangehörigen in dem Getreibe der Völker zu leiten sich bemüht, in Deutschland das gesetzgeberische Ende einer großen und mit seltener Einmütigkeit geführten Bewegung so kläglich sein sollte, daß das größte Lob, das man dem Gesetze nachsagen könnte, das wäre, daß es für Deutschland endlich einen Zustand schaffte, den andere Staaten schon vor fünfzig Jahren besessen haben. Noch ist ja die Gelegenheit gegeben, die hervorgehobenen Bedürfnisse unserer Auswanderung zu berücksichtigen. Möchten Bundesrat und Reichstag nicht achtlos daran vorbeigehen. Die letzten Jahre haben auf dem Gebiete der überseeischen Politik manche Enttäuschungen gebracht. Von der Bevölkerung wird die Notwendigkeit, auf diesem Gebiete eine neue Enttäuschung hinnehmen zu müssen, nicht begriffen werden. Man wird im Gegenteil die Frage aufwerfen, warum derselbe Reichskanzler, der bei der Begründung der Handelsverträge das von den Anhängern einer kräftigen überseeischen Politik so oft betonte künftige Weltbild einer Vorherrschaft des englisch-russischen Elementes sich aneignete, hier die Gelegenheit vorübergehen ließ, durch die in einfacher und doch entschiedender Weise für die Kräftigung und den [Seitenumbruch von 32 auf 33] Zusammenhalt des Deutschtums auf der Erde etwas gethan werden konnte. Deutschlands Weltstellung heben und seine Auswanderung nicht heben wollen, ist ein Widerspruch, der durch keine Rhetorik zu überdecken ist. Die Handelsverträge und der Gesetzentwurf über das Auswanderungswesen aber sind der Ausdruck dieses Widerspruches.


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