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Dokumentation

Das amtliche Kolonial-Blatt über Verluste an Beamten und Schutztruppenangehörigen im Herero-Krieg; Meldungen von Major Leutwein; Anzeige Geographie Deutsch-Südwestafrikas; Vortrag im Sozialwissenschaftlichen Studentenverein Freiburg über "neubritischen Imperialismus"

Freiburger Zeitung, 20.02.1904, 1. Blatt, 1. Seite

Zum Hereroaufstand. Das amtliche D. Kol.-Bl. schreibt in der gestern erschienen Ausgabe: Das Gouvernement des deutsch- südwestafrikanischen Schutzgebiets hat anläßlich des Hereroaufstandes den schmerzlichen Verlust einer Anzahl von tüchtigen, pflichttreuen Beamten zu beklagen. Sie alle haben ihr Leben in Ausübung ihrer Pflicht dahingegeben, sei es, daß sie im tapferen Kampf gegen die Aufständischen ihren Tod fanden, sei es, daß sie der Gewalttätigkeit und Heimtücke der Herero zum Opfer fielen. Das Andenken der Braven wird im Schutzgebiete wie auch in der Heimat in Ehren gehalten. Nach den vorliegenden amtlichen telegraphischen Berichten sind im Kampf Gefallen folgende Beamte und Angestellte des Gouvernements:

Der Gouvernementstierarzt H. Kämpny, geboren am 6. April 1875 in Stettin, der sich seit Anfang Juni 1902 im Schutzgebiet befand. Er fiel Mitte Januar auf einer Patrouille vor Karibib. Der Geheime Registraturassistent Otto Rock, geboren am 8. Dezember 1877 in St. Johann a.d. Saar, der erst im April 1903 als Leiter der Eisenbahnmaterialverwaltung nach Swakopmund entsandt war. Er fiel beim Ausfallgefecht von Okahandja am 20. Januar. Der Lokomotivführer Philipp Fadert aus Duisburg. Er war geprüfter preußischer Lokomotivführer und stand seit April 1902 im Schutzgebietsdienst. Der Lokomotivführer Karl Schliepen aus Altendorf bei Essen. Er stand seit 1898 im Gouvernementsdienst. Der Schreiber Wilhelm Gerwinsky aus Bitterfeld. Er war von 1896 bis 1899 Reiter in der kaiserlichen Schutztruppe und seither Schreiber im Dienst des Gouvernements. Der Angestellte der Eisenbahn Heinrich Grundmann aus Weddinghofen in Westfalen. 1898 in den Gouvernementsdienst getreten. Der Angestellte der Eisenbahn Otto Hellige aus Großfalz[?] bei Magdeburg, 1898 in den Gouvernementsdienst getreten. Der Gouvernementspolier Hermann Gerlitz aus Kuchblank [gemeint ist Kuhblank], Kreis Greifenhagen, Pommern, früher Tischlermeister in Stettin, seit 1900 im Gouvernementsdienst. Er fiel am 5. Februar im Gefecht bei Omaruru. Der Angestellte der Eisenbahn Robert Leopold Seelmann aus Horstdorf in Anhalt, seit 1898 im Gouvernementsdienst. Er fiel gleichfalls am 5. Februar im Gefecht bei Omaruru.

Von den Hereros ermordet sind folgende Beamte und Angestellte: Der Zivilpolizist Richard Tausendfreund aus Usdan, Kreis Riedenburg, Ostpreußen in Otjifeva [gemeint ist wohl Otjiwa]. Er hatte 1894 bis 1899 bei der kaiserlichen Schutztruppe gestanden und war nach mehrjährigem Aufenthalt in Deutschland 1902 in das Schutzgebiet zurückgekehrt, wo er zunächst als Meßgehilfe, dann als Zivilpolizist im Gouvernementsdienst tätig war. Der Meßgehilfe Rich. Mofenhauer aus Magdeburg-Neustadt. Er stand seit dem 1. August 1903 im Gouvernementsdienst. Der Meßgehilfe Max Hadelberg aus [?]nten , Ostpreußen, seit 1. Dezember 1903 im Gouvernementsdienst. Er wurde mit dem Meßgehilfen Mofenhauer zusammen Mitte Januar bei Seeis von Aufständischen ermordet. Der Streckenaufseher Rudolf Lehmann in Habis. Derselbe stand 1893 bis 1895 bei der kaiserlichen Schutztruppe, ließ sich später als Ansiedler im Schutzgebiet nieder und war zuletzt bei der Eisenbahn angestellt. Ferner sind nach Meldung eingeborener Diener der ständige Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, Legationsrat Hoepner und der landwirtschaftliche Beirat des Gouvernements, Kulturingenieur Watermeyer, welche sich bei Ausbruch des Aufstandes auf einer Reise im nördlichen Teil des Schutzgebietes befanden, am 14. Januar bei Waterberg von Herero ermordet worden. Wenngleich leider nach den vorliegenden telegraphischen Berichten der Tod beider kaum bezweifelt werden kann, so bleibt doch die endgiltige (Fehler im Text!!) Bestätigung noch abzuwarten.

Verluste der Schutztruppe bei den Kämpfen gegen die Herero. Gefallen: Feldwebel Kühnel, früher im 2. Garde-Dragoner-Regiment Kaiserin Alexandra von Russland, Feldwebel Müller, früher im Ulanen-Regiment v. Ratzler (Schles.) Nr. 2, Sergeant Placzek, früher im Husaren-Regt. Graf Goetzen (2. Schles.) Nr. 6, Unteroffizier Gaß, früher im Lauenburgischen Jäger-Bat Nr. 9, Unteroff. Kottler, früher im 2. Bad. Grenz.-Rgt. Kaiser Wilhelm I. Nr. 110, Unteroff. Otto, am 1. April 1896 in die Schutztruppe eingetreten, Unteroff. Prüß, früher im 4. Magdeburgerischen Infanterie-Regiment Nr. 07, Gefreiter Linke, früher im Thüringischen Ulanen-Regiment Nr. 6, Gefreiter Scherrer, früher im Eisenbahnregiment Nr. 2 und in der Betriebsabteilung der Militär-Eisenbahn, Reiter Hischer, früher im Eisenbahnregiment Nr. 2, Reiter Domschke, früher im 1. Sächsischen Husaren-Regiment König Albert Nr. 18, Reiter Rakete, früher im 7. Westpreußischen Infanterie-Regiment Nr. 155 und Reiter Nordbruch, früher im Oldenburgerischen Dragoner-Regiment Nr. 19.

Verwundet: Oberleutnant Griesbach, früher im 3. Lothringischen Infanterie-Regiment Nr. 185, Leutnant Frhr. v. Wöllwarth-Lauterburg, früher im Ulanenregiment König Wilhelm I. (2. Württembergisches) Nr. 20, am 12. Februar an seiner Wunde verstorben, Sergeant Taute, früher im Anhaltischen Infanterieregiment Nr. 03, Unteroffizier Heder, früher im 6. sächsischen Infanterieregiment Nr. 105 König Wilhelm II. Von Württemberg, Unteroffizier Ulbrich, früher im Feldartillerieregiment v. Poddielski (1. Niederschles.) Nr. 5, Gefreiter Kaul, früher im 2. Schlesischen Feldartillerieregiment Nr. 42, und Gefreiter Mielke, früher im 2. Leib-Husarenregiment Königin Viktoria von Preußen Nr. 2."


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Freiburger Zeitung, 20.02.1904 1. Blatt, 2. Seite

"Aus Deutsch-Südwestafrika. Berlin. Major Leutwein meldet im Anschluss an die gestern wiedergegebenen Nachrichten weiter: In dem Gefecht bei Seeis sind 3 Seesoldaten gefallen. Schwer verwundet ist 1 Mann, leicht verwundet ein Gefreiter. Nach einem späteren Telegramm Leutweins sind Privatnachrichten aus Großfontein zufolge 2 Reiter ermordet worden. 1 Ansiedler und 3 weitere Leute werden vermisst. Etwa am 18. Januar hat bei Großfontein ein Gefecht unter Oberleutnant Bollmann stattgefunden, bei dem 1 Unteroffizier gefallen, 3 Kriegsfreiwillige und 1 Bur verwundet worden seien. Vom Feinde sollen der Führer und 28 Mann gefallen sein. Station Großfontein ist außer Gefahr."


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Freiburger Zeitung, 20.02.1904 1. Blatt, 3. Seite

Bücheranzeigen: Carl Flemming Verlag - Geographiebuch von A. Herrich zu Asien mit „Deutsch-China (Kiautschou-Bucht) “ und

„Deutsch-Südwest-Afrika von Otto Herkt mit 4 Nebenkarten: Übersicht der Schiffsverbindungen, Beziehungen zum Kaplande, Lageplan von Swakopmund, Provinz Brandenburg zum Vergleich der Größenverhältnisse. Maßstab: 1: 8,000,000, Blattgröße 55 X 58 Cm. (Preis M. 1. Verlag Carl Flemming, A.G., Glogau). Die Ereignisse im fernen Osten und in Deutsch-Südwestafrika machen es erwünscht, ein Kartenblatt in den Händen zu haben, auf welchem man den Ereignissen jederzeit zu folgen imstande ist. Der genannte Verlag hat diesen Wünschen nach jeder Richtung hin Rechnung getragen und 8 Blätter herausgegeben, die übersichtlich, reichhaltig und billig sind.“


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Freiburger Zeitung, 20.02.1904, 2. Blatt, 1. Seite

"Neubritischer Imperialismus.

Kürzlich hielt in Freiburg Professor von Schulze-Gävernitz einen Vortrag über dieses Thema im Sozialwissenschaftlichen Studentenverein. Der Vorsitzende, Cand. cam. Helbling, konnte eine große Anzahl von Studenten aller Fakultäten als Gäste begrüßen. Der inhaltlich und rednerisch glänzende Vortrag, dem Spezialstudien in England zu Grunde lagen, fand, wie uns berichtet wird, begeisterten Beifall bei den Zuhörern. Wir geben den wesentlichen Inhalt des Vortrags hier wieder, denn er wird auch diejenigen Leser fesseln, die nicht mit allen Ausführungen einverstanden sind:

Das politisch und wirtschaftlich größte Ereignis des 19. Jahrhunderts war der fabelhafte Aufschwung der angelsächsischen Welt. Während um 1800 auf einen englisch redenden Menschen drei französisch redende kamen, ist heute das Verhältnis nahezu umgekehrt. Zwei angelsächsische Großmächte stehen heute an der Spitze der Welt. Die eine, vielleicht die wirtschaftliche Weltmacht schlechthin ist das britische Reich, beruhend auf der englischen Seeherrschaft. Ist England auch nicht mehr, wie vor 50 Jahren, die Weltwerkstätte der Industrie, so ist es doch der Frachtführer der halben Welt und ist Vermittler der Welt in Kredit und Zahlungsverkehr. Suchen wir nach den Grundlagen dieser Macht, so sehen wir, daß politische und wirtschaftliche Weltstellung nebeneinander erwachsen sind.

Der begründende Faktor ist allerdings der politische gewesen. Der fast 200jährige Kampf mit Frankreich, der in erster Linie durch Kriege ausgefochten wurde, war anfangs für Frankreich günstig gewesen: dieses hatte die doppelte Bevölkerungszahl und war ein reiches Land. Colbert hatte es zum Industriestaat gemacht und auch im kolonialen Wettbewerb stand es voran; waren doch damals die Neuenglandstaaten rings von dem unendlichen französischen Kolonialreich umgeben. Auch das Genie stand auf Seite Frankreichs: Dupleix löste das Rätsel, wie Indien zu erobern sei: nämlich mittels englischer Soldaten, die von indischen Steuerzahlern bezahlt würden und unter europäischer Leitung stünden; die Engländer haben dies später ausgeführt. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts hat Suffren mit französischer Flotte den indischen Ozean beherrscht. Aber die französische Flotte brach in der großen Revolution zusammen, die die beiden Marineoffiziere köpfte. Auch Napoleon I. kann nur von dem leitenden Gedanken des Kampfes gegen England aus verstanden werden: er wollte England zu seiner zweiten île d´Oléron machen. So nur lässt sich der egyptische Feldzug verstehen, so die Kriege auf dem Kontinent: auf die Schlacht von Jena folgte das Dekret von Berlin, das die Kontinentalsperre verhängte, so allein der phantastische Zug nach Moskau, der nach Indien führen sollte.

Trotzdem hat England gesiegt und zwar zunächst, weil ihm seine geographische Lage gestattete, sich einseitig auf die Flotte zu verlegen und keine Landkriege mit kontinentalen Söldnern führen zu lassen. Vom englischen Standpunkt aus waren der alte Fritz und der große Blücher Söldner mit englischem Gold bezahlt und englische Interessen verteidigend. Der politische Sieg hatte gewaltige wirtschaftliche Folgen. England verleibte tausende von Handelsschiffen der kontinentalen Mächte der britischen Flotte ein, und damals entstand ein Kolonialmonopol. So erwuchs in jenen Kriegen das Weltreich Englands, und Pitt hatte Recht, wenn er im Jahre 1800 ausrief: Kein glücklicheres Jahr ist gewesen als dieses, da nach diesen Jahren des Krieges Handel und Industrie mehr blühen denn je zuvor.

Jedoch besaß England nicht nur den stärkeren Staat: es besaß auch das stärkere Individuum. England kämpfte mit einer romanischen Nation und seine jüngere Volkskraft besaß das frischere Gehirn. Auch historische Kulturelemente spielten eine Rolle: bekanntlich hatte die Kirchenreformation England stark ergriffen. Zunächst in negativer Hinsicht: sie befreite den Einzelmenschen von überlieferten kirchlichen und staatlichen Autoritäten. Die Entwicklung der 'Menschenrechte' stammt aus puritanischen Kreisen, und auch wirtschaftlich ist der homo oeconomicus in England geboren. Auf dem Boden der Freiheit und der Sicherheit des Eigentums erwuchs die Großindustrie und nur diese machte die Subsidien nach dem Kontinent möglich. Frühe schon schon hatten Hume und Smith die Bedeutung der Freiheit des Eigentums erkannt. Aber auf der anderen Seite hat jene große Kirchenbewegung auch mächtige religiöse Empfindungen entfacht. Häufig schlummerten diese wohl unter der Oberfläche, aber sie erwiesen sich im ganzen sehr lebenskräftig und bewirkten, daß das freiere Individuum nicht ein Einzelmensch der Genußsucht wurde, sondern ein Wesen starker sittlicher Selbstzucht. England herrschte und herrscht, weil es sich in breiten Schichten eines reinen Familienlebens erfreut, weil es ein Volk voll Vaterlandsliebe, im Geschäftsleben vielfach soziales Empfinden und Verantwortlichkeitsgefühl hat. Denken wir nur daran, wie die englischen Arbeiter aus sozialrevolutionärer Erbitterung heraus sich zur Teilnahme an der britischen Größe emporgearbeitet haben. Diese sittlichen Momente sind in letzter Linie für Englands Größe entscheidend gewesen.

In der Freihandelsära trat das politische Moment in den Hintergrund; aber mit jenen geistigen Strömungen hing sie zusammen: war doch einer ihrer Hauptführer John Bright, ein frommer Quäker. Die Freihandelslehre war sehr extrem: vollständiges Ausscheiden des Staats aus dem Wirtschaftsleben; Kolonien sind nur zu behalten, wenn diese es wünschen und wenn sie rentieren; die Zollschranken zwischen den Nationen fallen. Die Politik der Freihändler war nicht so extrem und sie hat als Größtes den Kolonien die parlamentarische Verfassung gebracht und damit das englische Kolonialreich begründet.

Die Freihandelsstimmung ist heute verblichen, und an ihre Stelle ist der neuere Imperialismus getreten. Dieser war zunächst nur Stimmung und Lehre. In den Gedanken Thomas Carlyles, der die alte Aufklärung mit dem deutschen Idealismus überwand, sind die Grundgedanken der imperialistischen Strömung bereits enthalten: erstens ist die Nation keineswegs nur zusammengehalten durch die Berechnung von Verlust und Gewinn, sondern durch gemeinsame Kulturtraditionen ihrer einzelnen Glieder, ein Gedanke, der auf Fichte zurückgeht. Zweitens ist uns die Außenwelt zum Zweck der Kultivierung gegeben; das Irdische, Raum und Zeit, soll sein ein Saatfeld für den Geist, ein goethischer Gedanke. Als dieses Saatfeld wurden schon von Carlyle die englischen Kolonien angesehen. Und in dritter Linie betonte Carlyle starke, herrschend eingreifende Persönlichkeit.

Diesem Gedanken kamen die Tatsachen zu Hilfe. Damals war ja das deutsche Reich gegründet worden, der wirtschaftliche Aufschwung des neuen Deutschland verdankte dieser politischen Tatsache seine Entstehung und der Koloß Bismarck beschattete den europäischen Kontinent. Kehrseite dieses Gedankens: daß auch Uebermenschlein sich breit machten, die den Namen Bismarck im Munde führten, als Realpolitiker sich gebärdeten und nicht verstanden, daß die Macht auf sittlicher Grundlage ruhen muss. Solche Typen fand man auch in England: halb Börsenjobber – halb Seeräuber, wie Brentano gesagt hat.

Politisch wurde der Imperialismus erst, als die liberalen Größen (Gladstone) sich zurückzogen und die Vereinigten Staaten und das russische Reich sich in den Vordergrund der Politik schoben. Jetzt hieß es: entweder werden wir ein Kleinstaat oder wir nehmen engere Fühlung mit unseren Kolonien. In diesen Gedanken brachte Chamberlain ein neues Element hinein: wir brauchen ein greifbares Mittel, um das Reich zusammenzubinden, einen Verband der Interessengemeinschaft. Die englischen Kolonien müssen auf dem englischen Markt bevorrechtet werden: Daher Zollprivilegien, indem England Einfuhrzölle auf Nahrungsmittel erhebt, die den Kolonien nicht auferlegt werden. Andererseits soll auch das Mutterland in den Kolonien bevorrechtet werden: diese sollen fremde Industriewaren durch Prohibitivzölle abhalten und die englischen frei hereinlassen. Die Opfer liegen dabei nahezu vollständig auf der Seite des Mutterlandes. Denn die englische Industrie beherrscht bereits die Kolonialen Märkte, während die Einfuhr von Nahrungsmitteln aus den Kolonien nur etwa den vierten Teil der Gesamteinfuhr ausmacht.

Diese Opfer müssen, so sagt Chamberlain, den englischen Konsumenten auferlegt werden, wenn nicht der Zusammenhang des britischen Weltreichs riskiert werden soll. Und dieser Pessimismus scheint begründet zu sein. In Kanada steigt der von nordamerikanischen Ansiedlern besiedelte Westen über den Osten und vermehrt die Schwerkraft der Vereingten Staaten auf Kanada. In Südafrika ist trotz des Krieges die Bevölkerung nicht beseitigt, sondern auch jetzt noch ist die agrarische Bevölkerung holländischer Kultur. Australien ist kaum noch randbesiedelt; in Großstädten ist die Bevölkerung zusammengedrängt. Die politisch herrschende Arbeiterbewegung ist monopolistisch gesinnt und bekämpft, um ihre hohen Löhne zu behalten, die fremde Einwanderung. Dabei hat dieser jüngste Weltteil die jämmerlichste Geburtenziffer. Nahe liegt hier für England der Gedanke, durch einen gegen die übrigen Länder erhobenen Getreidezoll die Besiedelung Australiens durch Engländer zu befördern.

In Chamberlains ist ein großzügiger Gedanke, der alles anfaßt von Seiten des all-angelsächsischen Interesses; die englischen Inseln müssen bluten. Aber England ist ein demokratisches Land und alles geht dort durch die Wähler. Chamberlain wäre aussichtslos, wenn ihm nicht ein gewisser Faktor zu Hilfe käme: der Protektionismus. Daß es selbst Freihandel hat und seine Waren mit Zollschranken kämpfen sollen, erscheint ihm unbillig. Balfour faßt diese Stimmung in dem Wort retalation zusammen und sagt:nicht Schutzzölle, aber Zölle gegen ausländische Industrieprodukte, um das Ausland zu zwingen, seine Zölle herabzusetzen; Zölle als Verhandlungsobjekte, wie wir sagen würden. Vielleicht ist diese Aeußerung Balfours, die im Grund den Freihandel bezweckt, doch nicht ganz ehrlich. Denn Vergeltungszölle bleiben leicht bestehen und aus retalation wird protection. Daß Schutzzoll gewünscht wird, sprechen die Schutzzöllner drüben schon offen aus. Sie sagen Deutschland, die Vereinigten Staaten usw., produzieren billiger als wir, wir können nicht leben ohne Schutzzoll. Daher ist ihr Ideal: Abbau der Handelsbeziehungen und Rückzug auf die englischen Kolonien, die zum Teil gezwungen werden, mitzumachen, was England verlangt und zum Teil auf dem Gebiet der Agrarzölle Konzessionen erhalten. Voraussetzung also politische Herrschaft über das Kolonialreich: so sind die Protektionisten mit Notwendigkeit geborene Imperialisten.Die Gegner des Protektionismus sind nicht gering: noch leben Freihändler, die auf das Bestehende hinweisen können, und dieses Bestehende ist nicht schlecht: die Einkommenssteuer ist gestiegen, die öffentlichen Armenunterstützungen haben abgenommen, die Sparkassenanlagen zugenommen. Auch Interessenten stehen auf dieser Seite: der Exportindustrie sind die kontinentalen Märkte noch wichtiger als die kolonialen. Auch die breite Masse der Arbeiter, besonders die großen Gewerksvereine, sind noch gegen Chamberlain. Sie wissen: Protektionismus bedeutet Getreidezölle und Getreidezölle bedeuten Belastung der Lebenshaltung der Arbeiter. Aber in Arbeiterkreisen ist ein Umschwung denkbar: wenn sie an ihrer Arbeitslosenversicherung die fremde Konkurrenz merken!

Auch die Londoner City, die Vermittlerin des Welthandels und Geldmarkt der Welt, steht auf dem Boden des Freihandels.Wie die Entscheidung in England fallen wird, lässt sich nicht prophezeien.Zum Schluss aber sind die Konsequenzen der englischen Politik für unser Vaterland zu ziehen. Feststeht, daß England das politische Machtmittel im Kampf benützt. Nahe liegt ihm dabei die der Gedanke, auch den deutschen Konkurrenten, wie einst den holländischen mit Gewalt zu beseitigen; ein Gedanke, der in angesehenen Zeitschriften wie dem Spectator und der Saturday Review schon ausgesprochen wurde. Die Antwort auf diesen Imperialismus muss in der deutschen Flottenpolitik liegen: wir müssen eine Kriegsflotte schaffen, die England jeden Kriegsgedanken vertreibt. Nur dann kann eine Verständigung auf gleichem Fuß erfolgen, ohne daß eine societas leonia entsteht. Die wirtschaftlichen Konsequenzen sind nicht weniger klar. Bleibt der Freihandel bestehen, so liegt das in Deutschlands Interesse, denn England ist unser bester Absatzmarkt. Dabei ist aber für unsere deutsche Zollpolitik zu beachten, daß jeder von uns erhöhte Zoll ein Nagel mehr ist am Sarg des englischen Freihandels. Stirbt dieser, so erleiden wir auf dem englischen Markt starke Einbuße und die kolonialen Märkte gehen uns verloren.

Deutschland müsste nach anderen, neutralen Märkten gehen, auf denen es schon heute den Vorsprung hat, da der deutsche Kaufmann und der Industrielle sich den ausländischen Sitten besser anpassen als die englischen. Dann müssen wir aber die Produktionskosten der Industrie durch Zollfreiheit für Rohstoffe und Halbfabrikate und durch Herabsetzung der Lebensmittelzölle zu verbilligen suchen. So ist das Ergebnis des neueren Imperialismus Englands für unser deutsches Vaterland die Forderung: maritime Machtpolitik und verkehrsfreundliche Handelspolitik. In der Politik sollte Liebe und Haß keine Rolle spielen, sondern nur, wie Bismarck sagte: eine Leidenschaft, das Vaterlandsgefühl. Dies gilt besonders von unserem Verhältnis zu England. Leider sind diese Gedanken bisher nur erst in wenigen Köpfen vorhanden und die breiten Wählermassen stehen ihnen noch fremd gegenüber. Wir sehen das merkwürdige Schauspiel, daß auf der einen Seite die Agrarier die „die gräßliche Flotte“ bewilligen und dafür wirtschaftlichen Tribut verlangen und auf der anderen Seite die Arbeiter im Schmollwinkel stehen und sich des tatsächlichen Einflusses auf die Entwicklung berauben.Bis in diesen Verhältnissen Aenderung geschaffen ist, werden Jahre und Jahrzehnte dahinfließen. Es liegt eine Resignation darin, wenn wir sagen müssen, daß unsere Gedanken und Forderungen noch erst Lehre und Stimmung sind und nicht Politik. Erst wenn sie das geworden sind, wird das Morgen eines großen, besseren und freiheitlichen Deutschland heranbrechen.


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