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Reichstag: Schluß der Kolonialdebatte mit Angriffen von Reichskanzler Bülow auf Kritiker und Erklärungen verschiedener Abgeordneter

Freiburger Zeitung, 06.12.1906, 2. Blatt, 1. Seite

Deutscher Reichstag. Schluß der Kolonialdebatte.

Berlin, 4 . Dezember. Die heutige Reichstagssitzung hatte einen bewegten Beginn.

Zuerst gab Präsident Ballestrem eine Erklärung des Inhalts ab, daß er gestern der zweiten Rede des Abgeordneten Roeren bei der im Hause herrschenden Unruhe nicht allen Einzelheiten folgen konnte. Erst heute morgen beim Durchlesen der Reichstagsberichte in den Berliner Zeitungen habe er in der Rede Roerens die von allen Blättern übereinstimmend wiedergebende Ausdrücke gefunden, die, wenn er sie vom Präsidentenstuhl aus verstanden hätte, ihm zum sofortigen Einschreiten Veranlassung gegeben hätten. Abgeordneter Roeren habe von „plumpen und rohen Beleidigungen“ gesprochen, die ihm durch den stellvertretenden Kolonialdirektor zugefügt worden seien, auch habe er von ‚Börsenjebber und Konsorten’ gesprochen, den Herr Dernburg im Reichstage einzuführen versuche. Wenn es nicht schon der guten Gewohnheit des Hauses entspreche, auf die außerhalb des Hauses bestehende Tätigkeit eines Angeordneten näher einzugehen, so sei noch weniger zulässig, die frühere Tätigkeit eines Mitgliedes des Bundesrates zum Gegenstand abfälliger Kritik zu machen. Besonders in dem Ausdruck ‚Börsenjebber' habe er solche Beleidigung gefunden, daß er den Abgeordneten noch nachträglich zur Ordnung rufe.

Hierauf verlas Abg. Roeren eine Erklärung, daß über die Angelegenheit in seiner Fraktion mit keinem Wort verhandelt worden sei, daß er auch die Verhandlungen mit dem Kolonialamt in seinem eigenen Namen geführt und seiner Fraktion keine Mitteilung davon gemacht habe. Zu dieser Erklärung ist Herr Roeren offenbar von der Zentrumsfraktion veranlasst worden, die dadurch eine Verantwortung für seine gestrige Rede ablehnen will. Unter allgemeiner Spannung ergriff dann der Reichskanzler das Wort zu einer glänzenden Verteidigung des stellvertretenden Kolonialdirektors Dernburg gegen die gestern hier im Hause auf ihn gerichteten Angriffe.

Reichskanzler Fürst Bülow führte aus: Ich habe den letzten Sitzungen dieses hohen Hauses nicht beiwohnen können. Ich bin in diesen Tagen durch Sitzungen des Staatsministeriums und anderweite dringende Geschäfte in Anspruch genommen gewesen. Aus den Zeitungen habe ich aber erfahren, daß es gestern zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem stellvertretenden Direktor der Kolonialabteilung und einigen Mitgliedern dieses Hauses gekommen ist. Es ist meine Absicht, keinen Zweifel darüber zu lassen, daß ich die Haltung des stellvertretenden Herrn Kolonialdirektors und insbesondere seine Verteidigung grundlos angegriffener Beamten und seine Abwehr ungerechtfertigter Pressionen durchaus und nachdrücklich billige. (Lebhaftes Bravo!) Ich habe schon vor der Berufung des gegenwärtigen Kolonialdirektors im Laufe des Sommers strenge Weisungen ergehen lassen, daß die Untersuchung der in der Kolonialverwaltung vorgekommenen Mißstände nach allen Seiten hin unnachsichtlich und unparteiisch geführt und daß unter keinen Umständen irgend etwas in irgend einer Richtung vertuscht werden soll. (Bravo.) Die Offenheit, mit welcher der Kolonialdirektor sich über diese Vorgänge ausgesprochen hat, war also lediglich eine Konsequenz der von mir erteilten generellen Instruktion. Er war auch von mir ermächtigt, volle Aufklärung zu geben über den Fall Wistuba und über die damit zusammenhängenden Fragen, sobald der bedauerliche Gegensatz zwischen der Kolonialverwaltung und der Mission in Togo und die Konsequenzen dieses Gegensatzes hier zur Sprache gebracht werden sollten. Ich hätte gewünscht, daß der Abg. Roeren weniger dem Beispiel des Abg. Bebel und mehr dem Beispiel seines Fraktionsgenossen Erzberger folgend hier nicht diese schweren Mißstände zur Sprache gebracht hätte, deren Untersuchung zumteil schon im Gange ist. Nachdem dies einmal geschehen war, mußte deutlich und vorbehaltlos und über jeden Zweifel erhaben dargestellt werden, daß die eingeleitete Aufklärung sich nach allen Seiten zu erstrecken und daß sie nicht Halt zu machen hätte vor einzelnen Abgeordneten, die aufgrund einschlägigen Materials allzu eifrige Anschuldigungen erhoben und ungetreue Beamte unter ihren Schutz genommen hatten. Mit Recht hat der Kolonialdirektor gestern gefragt: Woher bekommen wir unsere Beamten in den Kolonien, wenn so verfahren wird? (Sehr richtig!) Ich weiß wohl, daß diese Mißstände sich unter meiner formalen Verantwortung ereignet haben, aber sobald ich Kenntnis von diesen Dingen erhalten hatte, bin ich rücksichtslos eingeschritten. Deshalb habe ich gerade einen zweimaligen Wechsel an der Spitze der Kolonialverwaltung vorgenommen. Jetzt ist eine gründliche Reorganisation der Verwaltung im Gange. Nachdem nun gestern diese Aussprache stattgefunden hat, richte ich nochmals an dieses hohe Haus die Bitte, mit gutem Willen, mit Klarheit und Festigkeit die begonnene Reorganisation der Kolonialverwaltung nicht dadurch zu hemmen, daß hier immer wieder alte und neue Fälle der Vergangenheit zur Sprache gebracht werden. Die vorgefallenen Dinge werden rücksichtslos geahndet und die Mißstände beseitigt werden, um die Kolonien einer besseren Zukunft entgegenzuführen. (Lebhafter Beifall.)

Abg. Werner (Reformpartei) erklärt, das Verdienst, die Verträge gelöst zu haben, sei nicht allzugroß. Jeder Kolonial-Direktor hätte dies tun müssen. Das sei seine Pflicht gewesen. (Sehr richtig.) Seine Freunde hätten keinen Grund, ihm besondere Loblieder zu singen. Sie seien in kolonialen Sachen im Laufe der Jahre etwas skeptisch geworden. Recht habe der Kolonialdirektor, wenn er meint, daß er in den Kolonien nur die allerbesten Kräfte gebrauchen könne. Die Fühlung zwischen Volk und Regierung sei verloren. Es sei noch viel Arbeit in den Kolonien zu tun.

Abg. Dr. Müller-Meiningen (freis. Vp.) spricht dem Präsidenten und dem Direktor des Reichstags seinen Dank für ihr Verhalten in der Haussuchungsangelegenheit aus. Vielleicht erscheint einmal ein Schwarzbuch über die Verhandlungen Roerens mit dem Direktor Stübel. Erfreulich ist, daß der Reichskanzler sich mit dem tapferen Kolonialdirektor in allen Stücken identisch erklärt hat. Wenn die Zustände in den Kolonien nicht anders werden, so werde man nichts mehr bewilligen. Redner geht dann auf die einzelnen Fälle ein und wünscht zu ihrer Klarstellung die Einsetzung einer Kommission. Der Reichskanzler habe seit Jahren gewußt, wie es im Kolonialamt aussehe. Man müsse da immer wieder verantwortliche Reichsminister fordern.

Abg. Bebel (Soz.) hofft, daß das Zentrum seine Verbindung mit der Mission weiter benutzen werde, um über Kolonialskandale zu berichten. Der Reichskanzler sei allein verantwortlich und schuldig. Hellwig sei tatsächlich doch den Angriffen der Abgeordneten erlegen. Graf Arnim sei daran allerdings unbeteiligt. Im Falle Dominik sei lange gar nichts geschehen. Wie sollen da die Verhältnisse in den Kolonien sich bessern, wenn für Vergehen keine Bestrafungen eintreten. Redner wendet sich gegen das versönliche Regiment und zitiert dabei die Denkwürdigkeiten Hohenlohes.

Vizepräsident Graf Stolberg bittet nicht soweit abzuschweifen. (Zuruf links: „Der passt Ihnen wohl nich!“)

Abg. Bebel wiederholt seine Angriffe gegen Dr. Peters. Arendt scheine an der englischen Krankheit Moral Insanity zu leiden.

Oberst Quade weist die Behauptungen Bebels zurück, daß Pöplau schon im Jahre 1903 Mitteilungen über den Hauptmann Dominik gemacht habe. Die Meldung über Dominik sei über London gekommen. Eine sofort veranlasste Untersuchung habe aber nichts Belastendes ergeben. Die übrigen Fälle würden genau untersucht werden.

Abg. Erzberger (Zentr.): Er werde von seinem Mittelweg nie abgehen. Dafür sei er ein viel zu guter Zentrumsmann. (Heiterkeit.) Bebel meinte, er habe dem Kolonialdirektor Myhrren gestreut – wisse er nicht, daß man Myrrhen nur Leichnamen streue? Durch die gestrigen Ereignisse sei seiner Ansicht nach nicht der Abgeordnete Roeren sondern der Kolonialdirektor Dr. Stübel bloßgestellt. Die Petersdebatte müsse endlich einmal aus der Welt geschafft werden. Man solle die Akten veröffentlichen. (Zustimmung.) Die Akten auf die sich der Kolonialdirektor stütze hätten keinen allzu großen Wert. Redner geht auf den Fall Hellwig ein und verteidigt die Stellung seiner Freunde zum Kolonialdirektor, dem sie immer noch Vertrauen entgegenbrächten.

Kolonial-Direktor Dernburg konstatiert zu seiner Genugtuung, daß laut einem soeben eingelaufenen Telegramm aus Togo neuerdings weitere Zeugen vernommen worden sind und daß sie absolut gegen Kersting nichts anzusagen gewußt hätten. Man habe bemängelt, daß er, Dernburg, von Eiterbeule gesprochen habe. Tatsache sei doch aber, daß Herr Roeren die betreffenden Vorgänge schon seit Jahren gekannt habe. Demgegenüber meine er, Dernburg, solche Dinge müßten sofort und nicht erst später im Reichstage zur Sprache gebracht werden. Redner geht auf die Ausführungen des Abgeordneten Erzberger ein, er hoffe, daß sich die Beschuldigungen gegen die Beamten, die einer strengen Untersuchung unterzogen werden würden, als unrichtig herausstellen möchten.

Abg. von Kardorff (Rp.) beklagt die ganze Art der Kolonialpolitik und nimmt seinen Freund Peters lebhaft in Schutz. Auf die Verabschiedung von Hellwig habe er niemals eine illoyale Einwirkung ausgeübt.

Hierauf geht ein Schlußantrag ein, der gegen Freisinnige, Sozialdemokraten und Polen angenommen wird.

Der Nachtrags-Etat geht an die Budgetkommission.

Mittwoch 1 Uhr: Schulstreik-Interpellation der Polen und des Zentrums, dann Gerstenzoll-Interpellation.

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