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Reichstag aufgelöst wegen Verweigerung des Kolonialkriegs-Nachtragsetats, Pressestimmen und Reichstagsberichte

Freiburger Zeitung, Samstag, 15.12.1906, 1. Blatt, 1. Seite

Reichstags-Auflösung!

Dem Wetterleuchten an den letzten Tagen ist der Schlag der Regierung gegen die Opposition gefolgt. Der Reichstag ist, nach Ablehnung der Forderung für Südwestafrika, aufgelöst. In unserem heutigen Bericht über die letzte Reichstagssitzung finden die Leser nähere Angaben über den Kampf, der die Geister geschieden hat. Ob er für die Dauer auch mehr als bisher die Geister der Regierung von denen des Zentrums trennte, das wird erst die Zeit nach den Wahlen lehren müssen. Die Regierung hat in der jetzigen Südwestafrika-Angelegenheit eine Stellung eingenommen, die eine Aufrechterhaltung ihrer Forderung rechtfertigt. Aber auch der politische Gesichtspunkt kam inbetracht, der eine Unterwerfung unter den Willen des Zentrums nach dem Zusammenstoß Dernburg-Roeren unmöglich machte. Die Haltung des Berliner Zentrumsblattes spiegelte überdies die Verlegenheit des Zentrums wegen des kritischen Zwischenfalles in der Kommission deutlich genug wider, um die Regierung zum Festhalten an ihrer Forderung zu bewegen. Schon in ihrer Mittwochmorgen-Nummer bezeichnete die Germania es als unwahrscheinlich, daß im Plenum nichts zustande kommen sollte. In ihrer Mittwochabend-Ausgabe wiederholte die Germ. diese Angabe und bemühte sich außerdem, die Ergebnislosigkeit der Ausschußverhandlungen zumteil mit der Reihenfolge der Fragestellung zu erklären. Ja, die Germania rechnete sogar für die Plenarberatung auf die Zustimmung der Sozialdemokratie zu dem Zentrumsantrage, weil die Truppen einmal in Südwestafrika seien und ihnen der Unterhalt nicht entzogen werden könne. An den energischen Schritt der Regierung dürfte das Zentrum so wenig ernstlich gedacht haben wie andere Leute. Nach dem jahrelangen freundlichen, auch schwächlichen Entgegenkommen der Regierung (nur keine Konflikte, hieß es, sei ihre Losung!) sprach man wohl von der Möglichkeit einer Reichstags-Auflösung, glaubte jedoch im Ernst nicht recht daran. Für die badischen Leser ist von besonderem Wert, was die Karlsruher Zeitung an leitender, aber nicht amtlicher Stelle sagt, wobei sie teilweise anderer Auffassung huldigt als wir:
„Obgleich die Möglichkeit eines so ernsten Entschlusses in den letzten vierundzwanzig Stunden von der Presse ins Auge gefasst worden ist, wirkt jetzt die endgiltige Maßregel mit der Wucht einer Ueberaschung, denn in der Tat, überraschen muß die geradezu leichtfertige Herausforderung, die sich die Mehrheit des Reichstages gestatten zu dürfen glaubte. Wir sehen dabei zunächst ganz ab von einer Beurteilung der eigenartigen Zusammensetzung dieser Mehrheit; es genügt, daß ihren Kern die Zentrumsfraktion bildet. Die Kalkulation, daß Dank der festgefügten Parteiorganisation das Zentrum auch bei einer Ausschreibung von Neuwahlen in alter Stärke wieder in den Reichstag einziehen würde, hat jedenfalls der Fraktion den Mut eingegeben, es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen. Daß bei dieser selbstbewußten Machtprobe ein großes Stück des Ansehens, das das Deutsche Reich im Auslande sich zu erzwingen vermocht hat, in die Brüche geht, scheint die Zentrumsfraktion nicht besonders aufzuregen. Man vergegenwärtige sich die Sachlage: das Zentrum verlangt eine so starke Ermäßigung der in Südwestafrika im Felde gegen einen barbarischen Feind stehenden Schutztruppen, daß hierdurch der Generalstab und mit ihm der verantwortliche Leiter der Reichsangelegenheiten den Verlust aller bisher errungenen Pacifikationserfolge und den tatsächlichen Abfall der Kolonie als sicher annehmen. Die Sachlage ist so geklärt, daß selbst auf jenem Teil der linken Seite des Reichstages, wo bisher wahrlich nicht allzuviel Geneigtheit für militärische Zwecke vorhanden war, der Regierung das Vertrauen entgegengebracht wird, sie werde selbst den richtigen Zeitpunkt für eine zweckmäßige Reduzierung der Schutztruppe zu bestimmen in der Lage sein. Diese die Keine einer erfreulichen Wandlung unserer parlamentarischen und politischen Verhältnisse in sich bergende Disposition durchkreuzt im entscheidenden Augenblicke die Zentrumsfraktion aus Rücksicht auf parteipolitische Zwecke; nur solche können ihre verhängnisvolle Abstimmung begründen. Denn es wird doch niemand innerhalb der Zentrumsfraktion im Ernste behaupten wollen, daß sie ein gründlicheres und unbefangeneres Urteil über die militärische Lage in Südwestafrika besitze als der deutsche Generalstab, derselbe Generalstab, dem die Geschichte der letzen fünfunddreißig Jahre das ruhmvolle Zeugnis ausstellt, daß er nicht mit dem Säbel rasselt. Hat sich doch vielmehr – wie wir glauben, mit Recht – in weiten Kreisen des Volkes schon die Meinung festgesetzt, daß gerade unsere unaufhörlichen Beteuerungen rückhaltloser Friedensliebe unserem Ansehen nicht durchweg förderlich seien und daß es zuzeiten nicht unzweckmäßig oder überflüssig gewesen wäre, wenn wir auch öffentlich auf die Zuverlässigkeit unserer Heeres- und Marine-Organisation hingewiesen hätten.“
Das Blatt mein dann, es wäre vielleicht auch besser gewesen, wenn, wenigstens seitens der nationalliberalen Partei, angeblich absolutistische Vorgänge weniger energisch zurückgewiesen worden wären, und schließt, es freue sich herzlich
„daß durch die Auflösung des Reichstags die Reichsregierung ihren Willen, sich nicht unter die Diktatur parteipolitischer Zwangsmaßregeln zu beugen, zweifelsfrei bekundet, und vor dem Reiche und dem Auslande zu erkennen gegeben hat, daß sie fest entschlossen ist, an Lebensfragen des deutschen Volkes nicht rütteln zu lassen. Und nun auf zur Arbeit!“

*

Ueber die
letzten Stunden in der gestrig
[sic]
Reichstagssitzung

berichtet die Straßb. Post: In einer markigen Schlußrede, die ungeheure Kundgebungen auslöst, erklärt der Reichskanzler Fürst Bülow, daß es sich um eine Frage handelt, bei der unsere Waffenehre in betracht kommt. Um eine verhältnismäßig geringfügige Summe zu ersparen, könne unsere nationale Stellung nicht gefährdet werden. Die verbündeten Regierungen verlangen eine klipp und klare Antwort. „Ich habe das alberne Wort, das mir in den Mund gelegt worden ist: Nur keine inneren Krisen! dementieren lassen; es kehrt aber immer wieder zurück. Ich habe nie etwas Derartiges gesagt. Wenn Sie sie haben wollen, dann haben Sie die Krisis. Niemand drängt mich, niemand schiebt mich, ich brauche keine Direktion. Es handelt sich hier um keine Frage des inneren Regiments, nicht im entferntesten um einen Gegensatz zwischen persönlichem und parlamentarischen Willen. Wir würden keinen Krieg führen können, wenn sich die Gewohnheit einbürgern sollte, militärische Maßnahmen im Kriegszustande von Fraktionsbeschlüssen abhängig sein lassen zu wollen. Wir kapitulieren nicht. Wir werden unsere Pflicht tun im Vertrauen auf das deutsche Volk.“ Die Rede erzeugte eine lange anhaltende, ungeheure Aufregung. Es begann die Abstimmung.
Bei Verkündigung des Abstimmungsergebnisses, 15 Min. nach 5 Uhr, saß kein Mensch mehr an seinem Platze, alles hatte sich erhoben und das Haus in allen seinen Teilen war dicht besetzt. Auf den Tribünen herrschte eine ungeheure Erregung. Der Präsident verkündigte das Ergebnis. Mit 10 Stimmen, nämlich 178 gegen 168, ist die Vorlage abgelehnt. Es ging eine Bewegung durch das Haus, aber als der Präsident fortfährt: Das Wort hat der Herr Reichskanzler! wodurch sowohl dem Reichstag wie dem Publikum auf den Tribünen klar wurde, daß man nunmehr die Reichsboten nach Hause schicken werde, da erhob sich, noch ehe der Reichskanzler sprechen konnte, eine ohrenbetäubende Kundgebung, Auf den Tribünen klatschte alles in die Hände, ein Hurrarufen und Bravorufen, das nicht enden wollte.

*

Einige Stimmen der Presse:

Den Münch. Neuest. Nachr. wurde noch gestern zur Lage aus Berlin geschrieben: Wenn die kundigsten Autoritäten der Zivil- und Militärverwaltung nach Pflicht und Gewissen erklären, wir brauchen eine bestimmte Anzahl Truppen – die Hälfte des früheren Bestandes -, um den Krieg zu Ende zu führen und die Kolonie zu sichern -, eine starke Verringerung der Streitkräfte müßte die noch unter der Asche glimmenden Funken wieder zur hellen Flamme der Empörung anfachen, würde uns den schon fast errungenen Sieg entreißen und entweder neue namenlose Opfer an Blut und Gut kosten oder direkt zum Verlust des Schutzgebietes führen, um das Tausende deutscher Söhne ihr Leben gelassen. – wenn, sagen wir, die Regierung dies erklärt und auf ihrer Forderung besteht, so heißt es gegen die Ehre und die Macht des Reiches und der Nation handeln, wenn eine große Partei hier feilscht um einige Bataillone und einige Millionen. Gäbe die Reichsregierung hier klein bei und nähme mit dem vorlieb, was die Zentrumsgnade ihr gewährt, dann beugte sie sich selbst unter das kaudinische Joch, unter das der Abg. Roeren symbolisch den schwächlichen Direktor Stübel zwang.

In den Leipz. Neuesten Nachrichten wird gesagt: Man konnte wohl in der Kanalfrage eine Politik der Kompensationen treiben, man konnte dort, als das Ganze abgelehnt wurde, sich mit einem Stück begnügen, weil der Rest noch immer nachgeliefert werden konnte; hier aber, in der Frage, die heute zur Entscheidung steht, liegen die Dinge [Seitenwechsel]


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Freiburger Zeitung, Samstag, 15.12.1906, 1. Blatt, 2. Seite

[Fortsetzung] ganz anders. Tote können nicht mehr aufgeweckt werden, und alle Gründe, die Herr Spahn für die Haltung des Zentrums anführt, werden den armen Kerl, der sich unter den Händen der Herero windet, nicht mit tröstlichen Gedanken erfüllen. Und wenn eine Kolonne in den Steppenwüsten unter den Qualen des Hungers zusammenbricht, weil das Zentrum Herrn Dernburg grollt, so wird sie sich auch an dem Genuß einer Rede Erzbergers nicht ersättigen. (Vergl. Neuest. und Telegramme.)

Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung schreibt in einer Sonderausgabe: Es handelt sich aber nicht bloß um Südwestafrika, wie wir dort durchhalten, ob wir mit zäher Opferwilligkeit vorwärtsgehen oder nach kaum erreichter Beseitigung der größten Gefahr wieder ermatten; es ist bei der heutigen politischen Gesamtlage uns selbst und unseren Mitbewerbern im überseeischen Wettkampf zum Prüfstein dafür geworden, ob Deutschland überhaupt der Entwicklung aus einem europäischen Großstadt [sic!] zur Weltmacht fähig ist. Unter unseren Augen vollzieht sich, von verschiedenen Seiten her, ein kraftvolles Ausgreifen auf die von der Kultur noch nicht erschlossenen Gebiete; wir erleben als Zeitgenossen den Aufschwung des britischen-amerikanischen und japanischen Imperialismus. Frankreich gründet ohne Zaudern und Knausern ein riesiges Kolonialreich in Afrika und Deutschland soll nicht einmal in energischer Behauptung und Verwertung des Erworbenen Schritt halten dürfen? Für die verbündeten Regierungen, für den Reichskanzler gab es in dieser Frage kein Paktieren.

[…]

Neuestes und Telegramme.

Zur Reichstagsauflösung.

Köln, 14. Dezember. Die Kölnische Volksztg., das rheinische Zentrumsorgan, meint bei Besprechung der Reichstagsauflösung, daß es sich hier um eine ureigene Entschließung des Kaisers handle, eine jener Entschließungen, die nach den Erfahrungen früherer Zeit in ihrer Plötzlichkeit nicht mehr überraschen könne. Das Volk habe bei den Neuwahlen nicht nur zu entscheiden, wie viel tausend Mann in Afrika stehen sollen, sondern auch darüber, ob die Volksvertretung unter allen Umständen verpflichtet sei zu bewilligen, was die militärische Kommandogewalt und die Gouverneure in Afrika fordern, wodurch die Volksvertretung zur einfachen Geldbewilligungsmaschine herabgedrückt werde. Das Blatt sieht mit Vertrauen der Zukunft entgegen und meint zum Schlusse, das Zentrum sei gerüstet.


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Freiburger Zeitung, Samstag, 15.12.1906, 2. Blatt, S. 1

Deutscher Reichstag.
Berlin, 13 Dezember.
Das Haus und die Tribünen sind gut besetzt. Am Regierungstisch: Reichskanzler Fürst Bülow, Staatssekretär v. Tschirschky, Kolonialdirektor Dernburg, Kriegsminister v. Einem, Schatzsekretär Freiherr von Stengel, Staatssekretär Graf Posadowsky und zahlreiche Kommissare.
Noch selten hat man einer Reichstagssitzung mit so großer Spannung entgegengesehen wie der heutigen, nicht blos wegen der außergewöhnlich hohen Summe, um deren Bewilligung oder Ablehnung es sich handelte, sondern vor allem auch wegen der politischen Folgen, die der ablehnende Beschluß des Reichstags nach sich ziehen mußte, da die Budgetkommission die im Etat für Südwestafrika geforderte Summe von annähernd 30 Millionen Mark abgelehnt hat. Auf der Tagesordnung steht die zweite Beratung des

Nachtragsetats für Südwestafrika,

der für Ausgaben infolge der Verstärkung der Schutztruppe zur Niederwerfung des Eingeborenenaufstandes und zur Heimbeförderung von Verstärkungen der Schutztruppe 29 220 000 M. verlangt. Es liegt ein Antrag Ablaß und Genossen vor, durch einen Vermerk im Etat diese Summe mit der Maßgabe zu bewilligen, daß die Heimsendung von weiteren 4000 Mann im Laufe des Rechnungsjahres erfolgen soll und bis zum Ablauf des Rechnungsjahres die Vorbereitungen zu einer erheblichen weiteren Verminderung der Gesamtstärke der Schutztruppe entsprechend der fortschreitenden Beruhigung des Schutzgebietes getroffen werden. Die Budgetkommission hat den ganzen Nachtragsetat abgelehnt. Das Zentrum hat den in der Kommission abgelehnten Antrag wieder aufgenommen, wonach neben den bis 31. März 1907 zurückgesandten 4000 Mann die Vorbereitung zur weiteren Rückbeförderung getroffen werden soll, so daß die Gesamtstärke der Truppen vom 1. April ab nur 2500 beträgt. Dementsprechend verlangt der Antrag nur 20 Mill. anstatt der geforderten 29 Mill.
Berichterstatter Dr. Spahn (Ztr.) legte zunächst den Standpunkt der Mehrheit der Budgetkommission dar. Die geforderte Summe von 29 220 000 M. stelle sich als Pauschalsumme dar, die sowohl die Kosten für den Unterhalt der Truppen als auch für ihre Heimbeförderung enthält. In der Kommissionsberatung beantragte das Zentrum eine Verminderung der Schutztruppe auf 2500 Mann, stieß aber damit auf den Widerspruch der Regierung und des Generalstabes, so daß die Kommission dem Hause die Entscheidung anheimstellen müsse.

Reichskanzler Fürst Bülow erhob sich nun, um die Stellung der verbündeten Regierungen zu begründen. Er führte aus: Die Ihnen heute zur Beschlußfassung unterbreitete Vorlage der verbündeten Regierungen ist vor ihrer Eindringung Gegenstand der eingehendsten Prüfung aller beteiligten Stellen gewesen und in ihr wird nur das Unerläßliche gefordert. Es wird nur diejenige Truppenstärke gefordert, die zur Niederwerfung des Aufstandes und zur Beruhigung unserer Kolonien unerläßlich ist. Wir werden die Truppenzahl in Südwestafrika bis zur Hälfte dieses Rechnungsjahres bis auf rund 8000 Mann vermindern, außerdem nach Fortschreiten der Aktionen und im Laufe des nächsten Jahres die Truppen noch weiter vermindern, und nur die notwendigen Truppen zurücklassen. Die Kommission ist leider zu keinem Resultat gelangt, sondern hat vielmehr alle Anträge und auch die Regierungsvorlage abgelehnt. Der Vorschlag, uns jetzt schon für das Rechnungsjahr 1907 auf eine bestimmte, gegenüber der jetzigen wesentlich verminderten Truppenzahl festzulegen, ist für die verbündeten Regierung unannehmbar. (Bravo rechts.) In dieser Kommission ist Ihnen von sachverständiger militärischer Seite dargelegt worden, daß die verlangte Truppenstärke wirklich notwendig ist und daß eine Verminderung tatsächlich unmöglich ist, weil dadurch die Fortführung der militärischen Aktionen verhindert werden würde. Ein Einstellen der militärischen Aktionen vor der völligen Niederwerfung des Aufstandes würde aber die schwerwiegendsten Folgen nach sich ziehen. Diese Gefahr würde nicht nur bestehen in dem Süden des Schutzgebietes, für Südwestafrika, sie würde auch die Mitte und den Norden schwer gefährden. Wir würden, so sagen alle Kenner der Verhältnisse, binnen kurzer Frist neue Aufstände in allen Teilen unseres Schutzgebietes zu gewärtigen haben, zu deren Niederwerfung die doppelten und dreifachen Opfer und Kosten uns erwachsen würden. (Sehr richtig.) Diese Aufstände würden in Südwestafrika naturgemäß auch auf unsere anderen Kolonien überspringen. Wir würden eine allgemeine Auflehnung gegen die weiße Herrschaft erlangen. (Na, na! links.) Die geringe Anzahl unserer Schutztruppen würde einer solchen Auflehnung nicht gewachsen. Wir stünden dann vor der Frage, ob wir unsere Kolonien mit verhältnismäßig hohen Kosten und Opfer wieder erobern, oder ob wir sie für immer verlieren wollen. Nicht nur die militärischen Autoritäten, sondern alle Sachverständigen stimmen darin überein, daß es sich um die letzten Anstrengungen handelt, um unseren Kolonien dauernde Ruhe und Sicherheit wiederzugeben. Wenn wir vor diesem letzten Schritt zurückschrecken wollten, so würden wir nach meiner Ansicht uns einer schweren Unterlassung, einer nationalen Versündigung schuldig machen. (Lebhafte Zustimmung.) Ich kann nicht annehmen, daß dieses Haus einen solchen in finanzieller und militärischer, in politischer und nationaler Hinsicht gleich bedauerlichen und bedenklichen Entschluß fassen wird. Sollte ich mich hierin täuschen, so würde ich als verantwortlicher Lenker der Reichsgeschäfte vor dem deutschen Volke und vor der Geschichte nicht in der Lage sein, eine solche Kapitulation zu unterschreiben. (Lebhafter Beifall rechts und bei den Nationalliberalen.)
Abg. Ledebour (Soz.) wendet sich gegen den Reichskanzler. Eine Beendigung des Krieges sei noch nicht abzusehen. Wir werden der Regierung nicht die Mittel zur Niedermetzelung der Eingeborenen geben und lehnen die Vorlage ab.
Abg. v. Richthofen (kons.): Wir werden niemals eine parlamentarische Nebenregierung dulden und wünschen eine Herabsetzung der Truppen, soweit es sich mit der Kriegsführung vereinbaren läßt.
Kolonialdirektor Dernburg: Die geforderten Mittel sind dazu nötig, um die Truppen bis zum 31. März zu verpflegen. Die verbündeten Regierungen können sich nicht jetzt schon auf eine bestimmte Truppenzahl festlegen lassen, die zurückzubefördern wäre; sie sind aber bereit, in das vorliegende Gesetz eine Bestimmung aufzunehmen, entsprechend dem freisinnigen Antrag, wonach außer den üblichen Rücktransporten weitere 4000 Mann zurückbefördert werden sollen, aber unter dem Vorbehalt, daß die Kommandogewalt uneingeschränkt bleibt. Die Regierungsvorlage muß aber in vollem Umfange aufrecht erhalten bleiben.
Schmidt-Elberfeld (freis. Volksp.) erklärt namens seiner Freunde, daß sie bereit seien, die Forderung der Regierung zu bewilligen, unter der Voraussetzung, daß die Truppen, soweit angängig, zurückgezogen würden.
Abg. Roeren (Zentr.) gibt eine zusammenhängende Darstellung seiner Verhandlungen mit dem Kolonialamt.
Kolonialdirektor Dernburg erklärt, daß die gegen Kersting und Schmidt erhobenen Beschuldigungen durchaus unbegründet seien. Der Bezirksamtmann Dietz sei ein treuer Beamter, der im Dienst für Kaiser und Reich in Togo den Tod fand. Der Redner erklärt, er sei gegen Roeren vorgegangen, weil er versucht habe, in seine Amtsführung einzugreifen.
Abg. Dr. Arendt (Rp.) spricht sich für die Regierungsvorlage und für den freisinnigen Antrag aus.
Abg. Dr. Paasche (natl.) dankt dem Reichskanzler und dem Kolonialdirektor für ihr mannhaftes Auftreten gegen jede Nebenregierung und spricht sich für den freisinnigen und gegen den Zentrumsantrag aus.
Abg. v. Czarlinski (Pole) spricht sich gegen die Regierungsvorlage aus. Seine Partei wolle die Schandtaten der Regierung nicht unterstützen. (Unruhe, Glocke des Präsidenten.)
Vizepräsident Graf Stolberg rügt diesen Ausdruck und ruft den Redner wegen eines weiteren Ausdrucks zur Ordnung, der in der ungeheuren Bewegung untergeht.
Abg. Lattmann (wirtsch. V.) spricht sich für die Regierungsvorlage aus.
Abg. Dr. Spahn (Ztr.) betont, durch den Zentrumsantrag werde nicht ein Groschen und nicht ein Mann gestrichen. Der Reichskanzler habe seine ablehnende Haltung nicht begründet. Am 1. April werden 8000 deutsche Soldaten 300 bewaffneten Hottentotten gegenüberstehen, das solle doch genügen. (Sehr richtig im Zentrum.) Wir sind uns unserer Verantwortung völlig bewußt und wenn der Aufstand wieder entflammt, werden wir neue Mittel bewilligen. (Lachen rechts und bei den Nationalliberalen.)
Oberst Quade wiederholt die in der Kommission gemachten Angaben über den Aufstand.
Abg. Zimmermann (Reformpartei) spricht sich für die Regierungsvorlage aus.
Abg. Dr. Semler (natl.) polemisiert gegen Spahn und verwirft den Zentrumsantrag. [Seitenwechsel]


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Freiburger Zeitung, Samstag, 15.12.1906, 2. Blatt, S. 1

[Seitenwechsel] Reichskanzler Fürst Bülow: Ich halte es für meine Pflicht, nochmals in letzter Stunde auf die schwere Verantwortung hinzuweisen, welche Sie durch ihre bevorstehenden Beschlüsse auf sich nehmen. Es handelt sich nicht um die Frage, ob wir für unsere Kolonien einige Millionen mehr oder weniger bewilligen werden, es handelt sich, wie der Vertreter des Generalstabs gesagt hat, um die Frage, ob wir unsere Kolonien behaupten wollen oder nicht. Es handelt sich, wie ich als verantwortlicher Leiter der Reichsgeschäfte hinzufüge, um die Frage, ob wir unser Ansehen in der Welt, ob wir unsere Waffenehre (Lebhafte Unruhe links, Bravo rechts), ob wir unsere Stellung in der Welt, ob wir unsere nationale Stellung gefährden wollen, um eine verhältnismäßig geringe Summe zu ersparen, nachdem uns der Aufstand hunderte von Millionen gekostet hat. Wollen wir in einer Stunde des Kleinmuts die Früchte tapferer Anstrengungen gefährden? Sollen die schweren Opfer an Gut und Blut, die wir für unsere Kolonien gebracht haben, vergebens gewesen sein? Die Regierung kann sich nicht von Fraktionen und Parlamenten vorschreiben lassen, wie viel Truppen für kriegerische Operationen notwendig sind. (Sehr richtig, rechts; Unruhe links.) Wohin würde es führen, wenn sich bei uns die Gewohnheit einbürgern wollte, militärische Maßnahmen im Kriegszustande, wovon das Leben, die Gesundheit unserer Truppen, unserer Waffenehre, unter Umständen das Wohl und Wehe und die Zukunft des ganzen Landes abhängt, abhängig zu machen von Fraktionsbeschlüssen und Parteirücksichten. (Lebhaftes Bravo rechts und bei den Nat.) Draußen stehen unsere Soldaten. Das sind Deutsche; sie haben gekämpft, sie haben Anstrengungen erlitten, sie sind im Begrff, den letzten Widerstand niederzuringen. Sollen sie etwa zurück, weil die kleinmütige Regierung aus Scheu vor Krisen und aus Parteirücksichten sie im Stiche läßt? Wie haben andere Völker ihre Kolonialkriege geführt: England, Frankreich und Holland, und sie haben nicht mit der Wimper gezuckt. Soll das deutsche Volk kleiner sein, kleiner dastehen, als andere Völker? Das ist die Frage, auf welche die verbündeten Regierungen eine Antwort fordern, klipp und klar. (Lebhafter Beifall.) Wir alle bedauern es, daß der Aufstand ausgebrochen ist, der uns so viele Leben, so große Summen gekostet hat. Wir können das bedauern, aber mehr können wir nicht. Wir müssen aushalten. Man hat mir das Wort in den Mund gelegt: Nur keine innere Krise. Ich habe das alberne Wort dementieren lassen, es kehrt immer wieder zurück. In Wirklichkeit habe ich natürlich nie etwas derartiges gesagt. Es gibt Situationen, wo ein Zurückweichen vor einer Krisis ein Mangel an Mut, ein Mangel an Pflichtgefühl sein würde. (Lebhaftes Bravo.) Wenn Sie wollen, haben wir die Krise. (Lebhaftes Bravo! Parteien können Forderungen annehmen und ablehnen. Sie tragen keine Verantwortung. (Oho!) Die Regierung aber darf nicht vor den Wünschen und Interessen einzelner Parteien zurückweichen, wenn nationales Ansehen in Frage steht. (Lebhafter Beifall rechts). Vor wenigen Minuten ist mir das Gerücht zugetragen worden, in dieser Frage schöbe ich nicht, sondern ließe mich schieben. Ich führte nur die Direktiven der obersten Stelle aus. Der südwestafrikanische Guerillakrieg sei nur eine Befriedigung des Militarismus. Das ist eine dreiste Unwahrheit. Niemand drängt mich, niemand schiebt mich, ich brauche gar keine Direktiven, um die nationale Notwendigkeit zu erkennen und im vorliegenden Falle lediglich um danach zu verfahren. Es handelt sich hier in keiner Weise um eine Frage des persönlichen Regiments. Es handelt sich lediglich um eine vom Reichskanzler nach gewissenhafter Ueberzeugung vertretene Auffassung der verbündeten Regierungen. Es handelt sich darum, ob wir unsere gesamte koloniale Stellung, ob wir unsere Stellung in der Welt, unser Ansehen nach außen behaupten wollen oder nicht. Glauben Sie, daß so etwas ohne Rückwirkung auf das Ausland bleiben werde? Welchen Eindruck im Auslande würde es machen, wenn die Regierung in dieser Frage kapitulieren wollte und nicht die Kraft fände, ihre nationale Pflicht zu erfüllen. Wir werden unsere Pflicht tun im Vertrauen auf das deutsche Volk. (Lebhafter anhaltender Beifall im Saal und auf den Tribünen. Zischen links.) Darauf wird der freisinnige Antrag mit 171 gegen 176 Stimmen abgelehnt, ebenso die Regierungsvorlage mit 168 gegen 178 Stimmen bei einer Enthaltung. Die Regierungsvorlage ist somit abgelehnt.

Hierauf verliest der Reichskanzler eine allerhöchste Botschaft, nach welcher der Reichstag aufgelöst wird. (Stürmischer Beifall, der sich auch auf die Tribünen fortpflanzt.)

Die Sozialdemokraten verlassen den Saal. Präsident Graf Ballestrem bringt das Hoch auf den Kaiser aus, in welches das Haus begeistert einstimmt. Schluß gegen 5 ½ Uhr.


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