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Debatte um (Dis-)Kontinuitäten von Kolonialismus und Nationalsozialismus (2008)

(siehe auch iz3w-Vorwort Zum Text)

 

 

Podiumsdiskussion am 7.2.2008 in Freiburg i. Br.

im Anschluß an die Vorträge von Jürgen Zimmerer und Birthe Kundrus

Jürgen Zimmerer:
Frau Kundrus' Argument war, dass der Hererokrieg ein asymmetrischer Krieg gewesen sei, während es sich beim Ostfeldzug der Nationalsozialisten um einen symmetrischen Krieg gehandelt habe. Wenn dies das Hauptkriterium zur Unterscheidung ist, dann müsste aber erklärt werden, wo der Unterschied lag zwischen dem symmetrischen Krieg an der Westfront und dem ebenfalls symmetrischen Krieg an der Ostfront. Denn einen fundamentalen Unterschied gibt es dort ja offensichtlich, obwohl beides symmetrische Kriege waren. Die Unterscheidung sollte daher meiner Meinung nach nicht zwischen asymmetrisch und symmetrisch getroffen werden, sondern zwischen eingehegtem und entgrenztem Krieg. Nicht jeder asymmetrischer Krieg ist auch ein entgrenzter Krieg.

Kolonialkriege waren auf Grund der rassenideologischen Aufladung entgrenzte Kriege, und das ist der Ostfeldzug der Nationalsozialisten ebenfalls gewesen. In dieser Rassenideologie, die dem Anderen das Mensch-Sein abspricht, liegt eine fundamentale Ähnlichkeit zwischen den Kolonialkriegen und dem Krieg im Osten. Aus diesem Grund überzeugt mich das Argument mit dem asymmetrischen Krieg als Unterschied nicht.

Zur Prozesshaftigkeit von Genoziden: Die moderne Genozidforschung ist doch - wie die moderne Holocaustforschung - schon längst weg vom Modell des Führerbefehls, der zentral gesteuerten Anordnung, in dem kein Platz für Prozesshaftigkeit bleibt. Für die Genozide in traditionellen Kolonialkriegen und für den Krieg im Osteuropa geht man von einer ideologischen Aufladung aus, in der der Oberbefehlshaber oder die führende Gruppe ein "Machbarkeitsfenster" öffnet. In dieser Situation kommt dann der situative Kontext zum Tragen. Das ist auch beim Hererokrieg zu sehen. Es ist möglich, die Herero alle zu vernichten, deshalb kann von Trotha das tun, und deshalb wird es auch ausgeführt.

Betrachtet man die Philippinen - dieses Beispiel hat Frau Kundrus ja genannt -, dann lässt sich zeigen, dass die amerikanische Armee dort ähnlich brutal vorging wie die "Schutztruppe" in Deutsch-Südwestafrika. Nur wird diese teilweise von Washington zurückgerufen. Von Trotha jedoch wird von Berlin nicht gemaßregelt. Hier nimmt Frau Kundrus bei dem Versuch, den Genozid an den Herero zu widerlegen, die Propaganda von Trothas allzu wörtlich.

Wenn Frau Kundrus darauf hinweist, dass Frauen und Kinder laut dem so genannten "Vernichtungsbefehl" nicht erschossen werden sollten, so stimmt das schon. Aber der Befehl lautete, über deren Köpfe zu schießen, damit sie wieder in die Wüste flüchten. Und der Subtext dieses Befehls ist: Dort verdursten sie. Daraus zu konstruieren, dass man im Grunde die Frauen und Kinder schonen wollte, erscheint mir schwierig.

Zum Aspekt der nationalgeschichtlichen Verengung: Wer vertritt denn eigentlich die These, dass es sich um einen deutschen Sonderweg zum Genozid handelt? Es handelt sich hier ganz klar um ein europäisches Phänomen, das sich schon im Hererokrieg radikalisiert. Und deshalb ist der Hererokrieg wichtig für das Verständnis des Nationalsozialismus. Er ist auch deshalb wichtig, weil es beide Male die deutsche Armee ist, die diese Verbrechen begeht. Keineswegs handelt es sich jedoch um eine deutsche "genetische Disposition" zum Genozid oder Ähnliches.

Zu Frau Kundrus' Einwand, der Genozidbegriff ließe Chaos und Kontingenz außer Acht: Die Genozidkonzeption tut dies eben nicht. Es geht lediglich um eine bestimmte Intentionalität der Vernichtung. Diese eröffnet Möglichkeitsräume, in denen sich dann auch der einzelne Täter vor Ort gerechtfertigt sehen kann.

Birthe Kundrus:
Sie sagten, die Intentionalität eröffne einen Möglichkeitsraum. Es ist jedoch nicht die Intentionalität, die einen solchen Raum eröffnet, sondern die Situation. Genauer: die Kriegssituation. Insofern würde ich dafür plädieren, sich vom Genozidbegriff zu lösen, der so stark auf die Intentionalität setzt, anstatt an situative Momente anzuknüpfen. Dann lässt sich sehen: Was ist wirklich passiert, wie lassen sich Eskalationsstufen rekonstruieren? Damit würde man sich auch endlich von der Frage lösen: "Haben wir es mit einem Genozid zu tun oder nicht?"

Zu Fragen wäre stattdessen: Worin bestehen die Ähnlichkeiten in den damaligen Kolonialkriegen? In Deutsch-Südwest bestand ein koloniales Setting, und es handelte sich um einen Pazifizierungskrieg. Die Hereros sollten für ihr unbotmäßiges Verhalten und den Mord an den Siedlern bestraft werden, und - das war die nächste Radikalisierungsstufe - für die deutsche Blamage am Waterberg. Das war es, was von Trotha umtrieb.

Diese Momente und situativen persönlichen Dispositionen sind aber im Genozidkonzept zu wenig repräsentiert. Anstatt von den Ereignissen auszugehen und daraus zu versuchen, verallgemeinerbare Erkenntnisse über diese Art von Megagewalt zu gewinnen, wird ein Konzept übergestülpt. Damit wird versucht, zwei Ereignisse in einen Zusammenhang zu stellen, die vielleicht bei näherer Betrachtung - wir machen das ja hier relativ unsystematisch - gar nicht so viel miteinander zu tun haben, außer dass es bestimmte Analogien gibt. Herr Zimmerer ist der Meinung, dass beide Ereignisse der gleichen Logik folgten. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Logiken sich extrem voneinander unterschieden.

Zum Aspekt der Asymmetrie: Kolonialkriege sind in der Regel asymmetrische Kriege. Herr Zimmerer selbst hat den Krieg in Osten als Kolonialkrieg bezeichnet. Wenn aber eine bestimmte Grundstruktur gar nicht vorhanden ist - in diesem Falle die symmetrische Auseinandersetzung bzw. für Kolonialkriege die asymmetrische Grundkonstellation eines Starken und eines Schwachen Kontrahenten -, dann lässt sich bereits ein fundamentaler Unterschied in der Grundkonstruktion feststellen.

Für wichtiger halte ich aber, dass hinter den beiden Kriegen eine andere Logik steckte. Bei der Kriegsführung gegen die Herero wurde seinerzeit im Deutschen Reich darüber debattiert, ob entfesselte Gewalt politisch funktional ist für das eigentliche Ziel - die Pazifizierung in Deutsch-Südwestafrika. Das lässt sich am Lavieren von Trothas und der Truppe ebenso wie an der vielfältigen öffentlichen Kritik an seiner Kriegführung zeigen.

Das alles spielt im Zweiten Weltkrieg überhaupt keine Rolle mehr. Hier ist entfesselte Gewalt das politische Moment. Es gibt keine zivile Instanz, die darüber reflektiert, ob sie politisch noch funktional ist oder nicht. Ruhe und Ordnung sind keine Kriterien für die Nationalsozialisten im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Das kann man am Generalgouvernement sehen: Die Gewalt, die sich zunächst nach Außen auf den Eroberungsfeldzug richtete, dreht sich und wird zu Terror nach Innen. Als 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion beginnt, wird das Generalgouvernement umdefiniert, es ist jetzt Durchmarschgebiet. Es wird sogar überlegt, ob man es an das Großdeutsche Reich annektiert. Es kommt also zu einer Art neuem "Aggregatzustand" entgrenzter Gewalt innerhalb dieser Überlegungen des Zweiten Weltkrieges.

Der entscheidende Punkt scheint mir zu sein: Das politische Ziel war nicht, Ruhe und Ordnung in einer Kolonie herzustellen. Die Nationalsozialisten hatten völlig andere Denkhorizonte, den permanent entfesselten Kampf, der an keiner Grenze mehr Halt macht. Grenzen, sei es das Generalgouvernement oder zunächst der Warthegau, spielten keine Rolle mehr. Die Ostgrenze war eigentlich immer flexibel, nie genau definiert und wurde in den Überlegungen immer weiter vorangetrieben.

Ein dritter Punkt: Herr Zimmerer hat auf die Vielgestaltigkeit des Kolonialismus hingewiesen, der durch die Gleichzeitigkeit von Destruktion und Aufbau charakterisiert sei. Wo bleibt in seinem Vergleichsszenario dieses Moment des Aufbaus, das Herr Zimmerer als eines der Kernkriterien des Kolonialismus benannt hat, wenn man den Blick auf die deutsche Besatzungsherrschaft in Osteuropa richtet?

Jürgen Zimmerer:
Frau Kundrus postuliert, Asymmetrie sei das Konstitutivum des Kolonialkrieges. Wenn es fehlt, kann es sich nicht mehr um ein koloniales Setting handeln. Dieser Logik ist nicht zu widersprechen. Die Frage ist, ob es stimmt, dass es die technische Asymmetrie ist, die den Kolonialismus eigentlich definiert. Oder sind es nicht eher die Rassenideologie und das binäre Denken, die Dichotomie? Wenn man letzteres annimmt, dann gibt es Analogien zwischen Hererokrieg und dem Krieg im Osten. Dass es sich um einen kolonialen Rassenkrieg handelt, unterscheidet den Ostfeldzug auch vom Krieg an der Westfront.

Zur Aufbauleistung des Kolonialismus: Beim Siedlerkolonialismus ist eine Aufbauleistung im 19. Jahrhundert schlichtweg nicht vorhanden, zumindest was die kolonisierten Gesellschaften angeht. Diese wurde im 20. Jahrhundert herbeiphantasiert. Der Aufbau, der tatsächlich stattfand, umfasste den Aufbau der Siedlergesellschaft.

Es ist doch nicht so, dass der nationalsozialistische Krieg im Osten oder das nationalsozialistische Imperium nur dann kolonial ist, wenn es en miniature alle möglichen Elemente des Kolonialismus abbildet. Es geht doch vielmehr um die destruktiven Elemente, um das Gewaltpotential des Kolonialismus. Dieses findet sich in Osteuropa wieder. Warum, Frau Kundrus, wehren Sie sich eigentlich so sehr dagegen, dass man irgendetwas, was in Europa passierte, als kolonial bezeichnen könnte?

Reinhart Kößler:
Wir haben es mit einem historischen Geschehen zu tun, das in hohem Maß dem Konzept der "entangled history" entspricht. Es ist tatsächlich deutsche Geschichte in Namibia geschehen und zum herausragenden Teil auch namibische Geschichte in Deutschland. Das heißt, man kann Linien ziehen, die nicht unbedingt Kontinuitätslinien und Kausalketten sind, aber man kann Fragen stellen und sich über mögliche Forschungslinien unterhalten. Dabei sollte man aber die unterschiedlichen Probleme auseinander halten: Die Debatte über den Genozidbegriff einerseits und die Verbindungslinien von Kolonialkrieg und Holocaust andererseits.

Zur Frage des Genozidbegriffes: Die Intentionalität war beim Hererokrieg wesentlich eindeutiger, als Frau Kundrus das dargestellt hat. Die Briefe von Trothas, seine Auseinandersetzung mit Leutwein über die Frage der Vernichtung, sind einfach erdrückend: Es handelt sich um eine kontinuierliche Artikulation von Vernichtungswillen.

Eine weitere Überlegung: Jürgen Zimmerer hat darauf hingewiesen, dass der Genozid an den Herero - wie ich ihn nach wie vor nennen würde - in Deutschland seinerzeit breit kommuniziert wurde. Das unterscheidet ihn in jedem Fall vom Holocaust zum Zeitpunkt des Geschehens. Über diesen Kolonialkrieg wurden die so genannten "Hottentottenwahlen" samt intensivem Wahlkampf geführt, und es hat dazu eine breite zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegeben, wie man bei Wehler, Nipperdey und anderen Historikern nachlesen kann. Die nationalen Verbände, nicht nur die Kolonialgesellschaft, sondern beispielsweise auch der Flottenverein haben massiv in den Wahlkampf eingegriffen. Es ist damals eine Neuordnung der deutschen parteipolitischen Landschaft erfolgt. Diese war wichtig für die weitere Entwicklung des radikalen Nationalismus in Deutschland, wie Geoff Eley das nennt. Es geht bei diesen Fragen nicht unbedingt um politische Konzepte oder strategische Vorgehensweisen der Armee, sondern um Denkmuster. Und es geht - da würde ich Jürgen Zimmerer zustimmen - um Entgrenzung.

Schwierigkeiten habe ich allerdings damit, wie beim Krieg im Osten die verschiedenen Prozesse analytisch auseinander gehalten werden können: Die Front, der Partisanenkrieg, die Einsatzgruppen und die Deportation von Juden aus dem Westen. Bei Letzterem handelt es sich meiner Meinung nach um einen völlig anderen sozialen Prozess, weil es dabei nicht um Entvölkerung ging. Gleichzeitig ist jedoch eine besonders radikale Entgrenzung festzustellen, weil sich das Geschehen auf unmittelbare Nachbarn und Bekannte bezieht.

Zum Problem der Verantwortung: Es gibt - und da muss man die "entangled history" durchaus national verstehen - auch heute eine Verantwortung gegenüber dem Geschehen in Deutsch-Südwest. Diese Verantwortung sollte man nicht durch den Verweis schmälern, dass es vor über hundert Jahren oder in kleinerem Maßstab als der Holocaust geschehen ist. Es geht hier nicht um eine Gleichsetzung mit dem Holocaust. Es ist jedoch nicht unwichtig, das Geschehen in Deutsch-Südwest als ‚Völkermord' zu bezeichnen und das, was man von den Nachfahren der Überlebenden in Namibia hören kann, ernst zu nehmen. Dabei darf es keine Opferkonkurrenz geben, in der diejenigen, die auf der Täterposition stehen, sich Unterschiede in der Artikulationsfähigkeit, der Lautstärke oder in der Evidenz zunutze machen können.

Ulrich Herbert:
Frau Kundrus hat die Kategorien herausgearbeitet, die man zum Vergleich heranziehen kann. Dass verglichen werden muss, ist nachvollziehbar und richtig.

Die erste Kategorie ist die direkte Kontinuität: Es gibt einige Untersuchungen zum Thema personelle Kontinuität. Das Ergebnis ist jedoch nicht besonders eindrucksvoll. Bis auf einige Veteranen aus dem Kolonialkrieg, die bestimmte Funktionen im Dritten Reich innehatten, findet sich keine signifikante personelle Kontinuität. Gleiches gilt für militärische Konzepte: auch hier ist ein direkter Nachweis sehr schwierig. Alle Elemente einer direkten Kontinuität - etwa im Sinne einer personell vermittelten Kausalität - würde ich also zurückstellen.

Die zweite Kategorie sind Parallelen: Im Grunde sind das strukturelle Kategorien, die man herausarbeitet, um zu zeigen, dass es jenseits der unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen und Bedingungen bestimmte Grundstrukturen von Massengewalt gibt, die mit dem Konzept Genozid erfasst werden können - oder auch nicht. Auch davon bin ich nicht sehr überzeugt. Man wird eine ganze Reihe von Parallelen und Analogien zwischen Kolonialkriegen und dem Krieg der Nationalsozialisten finden können. Doch dass es ein zentrales Element gibt, das beides als Varianten einer bestimmten Grundstruktur herausstellt, halte ich für fraglich.

Am interessantesten finde ich das, was Frau Kundrus "Transfer" genannt hat. Denn es lässt sich zeigen, dass die Vorstellungswelt eines Teiles der Protagonisten der NS-Eroberungspolitik koloniale Kategorien aufweist. Der Bezug auf das englische Kolonialreich taucht in der Korrespondenz insbesondere der SD- und RSHA-Führung immer wieder auf. Dieser koloniale Assoziationsrahmen der Nationalsozialisten kann durchaus weiter gefasst werden als ein bloßer Legitimationsrahmen. Er greift auch nicht direkt auf Deutsch-Südwest zurück, sondern viel platter auf die "Indianer", die man im Wesentlichen aus Indianerbüchern kennt. Das Indianerbild von Adolf Hitler, der sich ja sehr oft darauf bezieht, ist das von Karl May. Wer da nach bedeutenderen Analogien sucht, wird fehlgehen. Im Prinzip sind das sehr banale Strukturen. Als Beispiel dafür lässt sich Heydrichs Aufbau der deutschen Geheimpolizei anführen. Wie er selbst sagte, hat er das Bild dieser Geheimpolizei aus Kriminalromanen englischer Autoren bezogen.

Es gibt also koloniale Träume und Perspektiven im Dritten Reich. Der tatsächliche kolonialpolitische Apparat der NSDAP spielte aber eine viel geringere Rolle. Die Deutsch-Südwestler galten im Dritten Reich als ein bisschen "vorgestrig". Aber die Perspektive, ein Kolonialreich zu gewinnen - und zwar ein kontinentales Kolonialreich - war sehr virulent. Das gilt insbesondere für die Sowjetunion.

In dieser Hinsicht würde ich Frau Kundrus widersprechen. Zu Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion sah man ihn als einen asymmetrischen an, da man einen Sieg innerhalb von sechs Wochen erwartete. Nicht etwa nur die Nationalsozialisten, das glaubte die gesamte Fachwelt zu dieser Zeit, von Schweden bis Argentinien. Alle militärischen Experten waren einhellig der Meinung, dass nach den schnellen Siegen über die vermeintlichen Hauptgegner Frankreich und England das zusammenbrechende Russland nicht länger Widerstand leisten wird. Asymmetrie ist also ein Grundgedanke des Feldzuges im Osten. Dazu im Widerspruch steht allerdings das Empfinden einer strukturellen Defensive durch die deutsche Führung. Sie nahm an, dass man gegen eine Welt von Feinden zu kämpfen hat. Das war aber sehr stark bezogen auf den Westen und den Universalismus. Die Sowjetunion war gewissermaßen nur das kleine Anhängsel, das erobert werden musste, um sich auf London zu konzentrieren. So stellte sich die Situation im Frühjahr 1941 in der deutschen Führung dar. Die tatsächlichen Ereignisse resultieren also aus der Empfindung eines asymmetrischen Krieges und einer strukturellen Defensive, die beide schnelles und hartes Zuschlagen sowie eine radikale Entgrenzung implizieren.

Der Aspekt des Kolonialismus war in Bezug auf die Planung der deutschen Herrschaft in Osteuropa absolut zentral. Es ist unübersehbar: Der Generalplan Ost war ein kolonialer Plan. Die Ausstellung über den Generalplan Ost, die bis vor ein paar Wochen hier in Freiburg gezeigt wurde, hat das sehr deutlich gezeigt.

Interessant ist nun aber, dass der Rassismus, der beim Feldzug im Osten ganz bestimmt konstitutiv war, nicht unbedingt auf den Aspekt des Kolonialismus verweist. Soweit es den Generalplan Ost angeht und sich auf die russische Bevölkerung bezieht, besteht die Parallele. In Bezug auf den Holocaust aber bestimmt nicht. Deswegen ist der Buchtitel "Von Windhuk nach Auschwitz" für mich ein Problem. Angebracht wäre eher: "Von Windhuk zum Generalplan Ost". In Auschwitz passierte etwas völlig Anderes: Dort wird eine als Motor des Fortschritts des Westens und gleichzeitig des Bolschewismus ausgemachte Bevölkerungsgruppe biologisch verantwortlich gemacht für die Irritationen der Moderne und deswegen ausgerottet. Hier haben wir es gewissermaßen mit dem Gegenteil eines Hererokämpfers zu tun. Hier sollten Fortschritt und Universalismus aus völkischen Gründen ausgerottet werden. An dieser Stelle empfinde ich Parallele, Analogie und auch Transfer als enorm problematisch.

Mein letzter Punkt betrifft die moralische Ebene: Ich habe das beklemmende Gefühl, dass die Genoziddebatte zum Legitimationsgewinn geführt wird. Die Parallelisierung zu Auschwitz verschafft Legitimationsgewinn, indem ich sagen kann: "Der Kolonialismus war genauso schlimm wie Auschwitz." Letztlich führt dieses Unterfangen - wenn es empirisch nicht absolut dicht ist - jedoch immer in die Irre und verkehrt sich unter Umständen sogar ins Gegenteil. Ein Beispiel: Kulturminister Neumann und einige andere versuchen sich seit Jahr und Tag an der Parallelisierung der "beiden deutschen Diktaturen". Doch die DDR hat zwar Aktenberge hinterlassen, aber keine Leichenberge. Hier würde ich für eine saubere Analyse - durchaus mit dem Begriff des Völkermords - plädieren, denn letztlich schaden Parallelen zum Legitimationsgewinn den eigenen analytisch-intellektuellen Zielen.

Birthe Kundrus:
Diese Debatte dreht sich doch vor allem um die Bedeutung des deutschen Kolonialismus für die deutsche Geschichte. Das ist gleichzeitig der Wert der Debatte, aber auch ihre Krux. Wir sollten den Kolonialismus als europäisches Phänomen sehen, und deshalb sollten wir auch in europäischen Dimensionen denken.

Man muss kontextualisieren, das ist das zweite Moment. Der Kolonialismus ist eine Entwicklung zu einer bestimmten Zeit. Es gibt parallel dazu andere, zum Beispiel den Antisemitismus. Dann gilt es abzuwägen: Welche einzelnen Momente sind wichtiger und welche unwichtiger in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung, zum Beispiel die Kriegführung?

Ein positiver Aspekt für die NS-Forschung ist, dass sie durch die Anstöße aus der Kolonialismusforschung aus ihrem "Dämmerzustand" gerissen wird und dazu gezwungen wird, die Verallgemeinerungsfähigkeit der eigenen Aussagen zu überprüfen. Diese ist gegenwärtig ja sehr detailreichen Studien verhaftet und kann uns zum Beispiel genau sagen, an welchem Tag im Warschauer Ghetto wie viele Juden umgebracht worden sind. Aber sie verfolgt nicht mehr die "roten Linien" des 20. Jahrhunderts, die die Geschehnisse in Osteuropa im historischen Kontext verorten könnten. Wir befinden uns im Augenblick also in einer Dilemmasituation. Es wäre erfreulich, wenn die Kolonialismusforschung Erfolg haben und diesen "Dämmerzustand" beenden würde. Das Resultat könnten lesbarere Bücher über den Nationalsozialismus sein.

Jürgen Zimmerer:
Was eine bestimmte Strömung der Genozidforschung anbelangt, ist der letzte Einwand von Herrn Herbert sicherlich gerechtfertigt. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass das Genozidkonzept deshalb absurd oder ungeeignet sein muss. Wenn wir gänzlich auf den Begriff verzichten, wie Christian Gerlach das ebenfalls verlangt, haben wir als Wissenschaftler ein Problem: Wir ziehen uns vom Genozidbegriff zurück, dieser wird aber weiterhin überall verwendet, zum Beispiel in der Politik. Wir sollten eher prüfen, ob es möglich ist, das Genozidkonzept so zu verwenden und theoretisch zu unterfüttern, dass es brauchbar ist - auch für Vergleichsarbeiten. Ich denke, das ist durchaus möglich.

Ich halte es für eine Unterstellung, die gesamte Genozidforschung strebe über den Vergleich des Kolonialismus mit dem Nationalsozialismus lediglich einen Legitimationsgewinn an. Denn umgekehrt kann man in der Weigerung, das Kolonialismuskonzept auf den NS anzuwenden, eine Apologetik des Kolonialismus, ein Herunterspielen sehen. Das gilt natürlich nicht für die gesamte Forschung, aber es finden sich Fälle, in denen das passiert.

Um nach vorne zu blicken: Was bringt es uns für das Verständnis des Kolonialismus, wenn wir den Nationalsozialismus als Kolonialismus verstehen, und was bringt es uns für das Verständnis des Nationalsozialismus? Bringt das einen heuristischen Gewinn?

Ulrich Herbert:
Der Ostfeldzug kann als Kolonialismus verstanden werden, aber doch nicht der Nationalsozialismus als ganzes.

Jürgen Zimmerer:
Wenn man sich fragt, in welchem Maße Kolonialismus im Nationalsozialismus enthalten ist, so lautet Ihre Antwort - die ich durchaus teile: Gewisse Elemente des Ostfeldzuges enthalten koloniale Elemente. Wenn man herausfinden möchte, was das spezifisch Neue an den nationalsozialistischen Verbrechen war, müssen wir uns von der Vorstellung lösen, es wäre nichts davon aus der Geschichte gekommen. Wenn manche Autoren die Reservatspolitik in Osteuropa als ein Novum der Weltgeschichte darstellen, bringt das die NS-Forschung überhaupt nicht weiter. Denn das Spezifische können wir nur verstehen, wenn wir bereit sind zuzugeben, dass manche Elemente so neu gar nicht waren.

Der eigentliche Holocaust, also die Ermordung der Juden, war in der Tat nicht kolonial, zumindest nicht in der Form wie der Ostfeldzug. Aber die Rede vom "Zivilisationsbruch" stammt auch nicht von mir. Welches Tabu ist denn im Nationalsozialismus erstmals gebrochen worden? Jedenfalls nicht das Tabu, dass man ganze Ethnien nicht umbringen darf.

Ulrich Herbert:
"Zivilisationsbruch" meint bei Diner den Bruch des Rationals, jemanden umzubringen, der lebend mehr "Nutzen" für den Täter hätte.

Jürgen Zimmerer:
An dieser Stelle kann ich nur auf die berüchtigte Debatte zwischen von Trotha und Leutwein verweisen. Als Trotha seine Vernichtungsabsicht kundtut, antwortet Leutwein, dass der Mord an den Herero doch Wahnsinn sei, da man sie als Arbeitskräfte bräuchte. Von Trotha antwortet, dass Deutsch-Südwestafrika weißen Mannes Land sei. Solle der weiße Mann den Pflug doch selbst ziehen. Hier haben es wir doch mit genau dieser Logik zu tun, die Diner als Zivilisationsbruch bezeichnet. Deshalb plädiere ich dafür, den Nationalsozialismus auch einmal mit dem kolonialen Instrumentarium zu untersuchen, weil es uns weiter bringen kann.

Eine der heiß diskutierten Fragen ist dabei immer: Wie werden so viele Deutsche zu willigen Vollstreckern, zu Tätern? Warum beginnt dieser Tabubruch, dieses Menschheitsverbrechen? Eine mögliche Antwort ist: Weil es ihnen nicht klar war, dass sie ein Menschheitsverbrechen begehen. Weil sie eben aus Karl May-Büchern, aus der Kolonialliteratur wussten, wie man mit "primitiven Völkern" umgeht. Und weil sie glaubten, dass das ganz normal sei, weil es durch alle anderen europäischen Kolonialmächte ebenso ausgeführt wurde.

Ich plädiere dafür, diese Fragen zu stellen. Denn nur so kommen wir auf den Kern des Verbrechens, der sich nicht ableiten lässt aus früheren Ereignissen. Aber wir können nicht schon a priori postulieren, dass keine Verbindung besteht.

Zuhörer:
Frau Kundrus, Ihr Vortrag leidet daran, dass einige Sachverhalte falsch bewertet werden. Ein Beispiel: Sie sagen, strukturell waren die beiden Kriege nicht vergleichbar, da in dem Hererokrieg immerhin noch eine zivil eingegrenzte militärische Gewalt vorhanden war, und das letzte Ziel die Befriedung war. Im Ostfeldzug hingegen sei das Militär nicht mehr zivil eingegrenzt gewesen. Der oberste Führer des Dritten Reiches war aber ein Zivilist, und das Primat der Politik hätten weder Hitler noch die Partei jemals durch das Militär in Frage stellen lassen. Zivil eingegrenzt war die Wehrmacht also in jeder Hinsicht.

Der zweite Punkt: Wir wissen seit Hillgruber, was das Dritte Reich und Hitler und natürlich auch die Wehrmacht wollten. Der Feldzug gegen die Sowjetunion war dabei nur ein Zwischenziel, dem die Beherrschung folgen sollte, wenn auch mit Terror. Friede im Land - auf welche Weise auch immer - war auch das Ziel des Ostfeldzuges. Einen strukturellen Unterschied zum Hererokrieg gibt es nicht.

Birthe Kundrus:
Es geht nicht um die strukturellen Unterschiede, es geht um Logiken. Was waren denn die Hauptlogiken des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion? War er ein Kolonialkrieg? Er war kein Kolonialkrieg, weil sich die Logiken fundamental voneinander unterschieden. Der Kolonialkrieg gegen die Herero war eine klassische Pazifizierungsaktion. Beim Krieg gegen die Sowjetunion ging es nicht um Pazifizierung. Es ging um Annektion, um Eroberung fremden Terrains, Entstaatlichung, Entnationalisierung und Entgesellschaftlichung. Das war ein Weltanschauungskampf.

Transkription: Fabian Holzheid. Redaktionelle Bearbeitung: Fabian Holzheid/ Christian Stock

Übersicht zur Debatte: iz3w-Vorwort Zum Text

Philip Geck und Anton Rühling: Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text

Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text

Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid. Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript) Zum Text

Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede. Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript) Zum Text

Podiumsdiskussion (Transkription) Zum Text

Seminar (Transkription) Zum Text

Heiko Wegmann: Kokospalme mit Hakenkreuz - Die Kolonialbewegung in Freiburg während des Nationalsozialismus (pdf, aus iz3w 313) Zum Text

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