Pressedokumentation auf www.freiburg-postkolonial.deReichstag aufgelöst wegen Verweigerung des Kolonialkriegs-Nachtragsetats, Pressestimmen und Reichstagsberichte |
Freiburger Zeitung, Samstag, 15.12.1906, 1. Blatt, 1. Seite Reichstags-Auflösung! Dem Wetterleuchten an den letzten Tagen ist der Schlag der Regierung gegen die Opposition gefolgt. Der Reichstag ist, nach Ablehnung der Forderung für Südwestafrika, aufgelöst. In unserem heutigen Bericht über die letzte Reichstagssitzung finden die Leser nähere Angaben über den Kampf, der die Geister geschieden hat. Ob er für die Dauer auch mehr als bisher die Geister der Regierung von denen des Zentrums trennte, das wird erst die Zeit nach den Wahlen lehren müssen. Die Regierung hat in der jetzigen Südwestafrika-Angelegenheit eine Stellung eingenommen, die eine Aufrechterhaltung ihrer Forderung rechtfertigt. Aber auch der politische Gesichtspunkt kam inbetracht, der eine Unterwerfung unter den Willen des Zentrums nach dem Zusammenstoß Dernburg-Roeren unmöglich machte. Die Haltung des Berliner Zentrumsblattes spiegelte überdies die Verlegenheit des Zentrums wegen des kritischen Zwischenfalles in der Kommission deutlich genug wider, um die Regierung zum Festhalten an ihrer Forderung zu bewegen. Schon in ihrer Mittwochmorgen-Nummer bezeichnete die Germania es als unwahrscheinlich, daß im Plenum nichts zustande kommen sollte. In ihrer Mittwochabend-Ausgabe wiederholte die Germ. diese Angabe und bemühte sich außerdem, die Ergebnislosigkeit der Ausschußverhandlungen zumteil mit der Reihenfolge der Fragestellung zu erklären. Ja, die Germania rechnete sogar für die Plenarberatung auf die Zustimmung der Sozialdemokratie zu dem Zentrumsantrage, weil die Truppen einmal in Südwestafrika seien und ihnen der Unterhalt nicht entzogen werden könne. An den energischen Schritt der Regierung dürfte das Zentrum so wenig ernstlich gedacht haben wie andere Leute. Nach dem jahrelangen freundlichen, auch schwächlichen Entgegenkommen der Regierung (nur keine Konflikte, hieß es, sei ihre Losung!) sprach man wohl von der Möglichkeit einer Reichstags-Auflösung, glaubte jedoch im Ernst nicht recht daran. Für die badischen Leser ist von besonderem Wert, was die Karlsruher Zeitung an leitender, aber nicht amtlicher Stelle sagt, wobei sie teilweise anderer Auffassung huldigt als wir: * Ueber die * Einige Stimmen der Presse: Den Münch. Neuest. Nachr. wurde noch gestern zur Lage aus Berlin geschrieben: Wenn die kundigsten Autoritäten der Zivil- und Militärverwaltung nach Pflicht und Gewissen erklären, wir brauchen eine bestimmte Anzahl Truppen – die Hälfte des früheren Bestandes -, um den Krieg zu Ende zu führen und die Kolonie zu sichern -, eine starke Verringerung der Streitkräfte müßte die noch unter der Asche glimmenden Funken wieder zur hellen Flamme der Empörung anfachen, würde uns den schon fast errungenen Sieg entreißen und entweder neue namenlose Opfer an Blut und Gut kosten oder direkt zum Verlust des Schutzgebietes führen, um das Tausende deutscher Söhne ihr Leben gelassen. – wenn, sagen wir, die Regierung dies erklärt und auf ihrer Forderung besteht, so heißt es gegen die Ehre und die Macht des Reiches und der Nation handeln, wenn eine große Partei hier feilscht um einige Bataillone und einige Millionen. Gäbe die Reichsregierung hier klein bei und nähme mit dem vorlieb, was die Zentrumsgnade ihr gewährt, dann beugte sie sich selbst unter das kaudinische Joch, unter das der Abg. Roeren symbolisch den schwächlichen Direktor Stübel zwang. In den Leipz. Neuesten Nachrichten wird gesagt: Man konnte wohl in der Kanalfrage eine Politik der Kompensationen treiben, man konnte dort, als das Ganze abgelehnt wurde, sich mit einem Stück begnügen, weil der Rest noch immer nachgeliefert werden konnte; hier aber, in der Frage, die heute zur Entscheidung steht, liegen die Dinge [Seitenwechsel] Scan der Originalseite auf Server der UB-Freiburg Freiburger Zeitung, Samstag, 15.12.1906, 1. Blatt, 2. Seite [Fortsetzung] ganz anders. Tote können nicht mehr aufgeweckt werden, und alle Gründe, die Herr Spahn für die Haltung des Zentrums anführt, werden den armen Kerl, der sich unter den Händen der Herero windet, nicht mit tröstlichen Gedanken erfüllen. Und wenn eine Kolonne in den Steppenwüsten unter den Qualen des Hungers zusammenbricht, weil das Zentrum Herrn Dernburg grollt, so wird sie sich auch an dem Genuß einer Rede Erzbergers nicht ersättigen. (Vergl. Neuest. und Telegramme.) Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung schreibt in einer Sonderausgabe: Es handelt sich aber nicht bloß um Südwestafrika, wie wir dort durchhalten, ob wir mit zäher Opferwilligkeit vorwärtsgehen oder nach kaum erreichter Beseitigung der größten Gefahr wieder ermatten; es ist bei der heutigen politischen Gesamtlage uns selbst und unseren Mitbewerbern im überseeischen Wettkampf zum Prüfstein dafür geworden, ob Deutschland überhaupt der Entwicklung aus einem europäischen Großstadt [sic!] zur Weltmacht fähig ist. Unter unseren Augen vollzieht sich, von verschiedenen Seiten her, ein kraftvolles Ausgreifen auf die von der Kultur noch nicht erschlossenen Gebiete; wir erleben als Zeitgenossen den Aufschwung des britischen-amerikanischen und japanischen Imperialismus. Frankreich gründet ohne Zaudern und Knausern ein riesiges Kolonialreich in Afrika und Deutschland soll nicht einmal in energischer Behauptung und Verwertung des Erworbenen Schritt halten dürfen? Für die verbündeten Regierungen, für den Reichskanzler gab es in dieser Frage kein Paktieren. […] Neuestes und Telegramme. Zur Reichstagsauflösung. Köln, 14. Dezember. Die Kölnische Volksztg., das rheinische Zentrumsorgan, meint bei Besprechung der Reichstagsauflösung, daß es sich hier um eine ureigene Entschließung des Kaisers handle, eine jener Entschließungen, die nach den Erfahrungen früherer Zeit in ihrer Plötzlichkeit nicht mehr überraschen könne. Das Volk habe bei den Neuwahlen nicht nur zu entscheiden, wie viel tausend Mann in Afrika stehen sollen, sondern auch darüber, ob die Volksvertretung unter allen Umständen verpflichtet sei zu bewilligen, was die militärische Kommandogewalt und die Gouverneure in Afrika fordern, wodurch die Volksvertretung zur einfachen Geldbewilligungsmaschine herabgedrückt werde. Das Blatt sieht mit Vertrauen der Zukunft entgegen und meint zum Schlusse, das Zentrum sei gerüstet. Scan der Originalseite auf Server der UB-Freiburg | nach oben
Freiburger Zeitung, Samstag, 15.12.1906, 2. Blatt, S. 1 Deutscher Reichstag. Nachtragsetats für Südwestafrika, der für Ausgaben infolge der Verstärkung der Schutztruppe zur Niederwerfung des Eingeborenenaufstandes und zur Heimbeförderung von Verstärkungen der Schutztruppe 29 220 000 M. verlangt. Es liegt ein Antrag Ablaß und Genossen vor, durch einen Vermerk im Etat diese Summe mit der Maßgabe zu bewilligen, daß die Heimsendung von weiteren 4000 Mann im Laufe des Rechnungsjahres erfolgen soll und bis zum Ablauf des Rechnungsjahres die Vorbereitungen zu einer erheblichen weiteren Verminderung der Gesamtstärke der Schutztruppe entsprechend der fortschreitenden Beruhigung des Schutzgebietes getroffen werden. Die Budgetkommission hat den ganzen Nachtragsetat abgelehnt. Das Zentrum hat den in der Kommission abgelehnten Antrag wieder aufgenommen, wonach neben den bis 31. März 1907 zurückgesandten 4000 Mann die Vorbereitung zur weiteren Rückbeförderung getroffen werden soll, so daß die Gesamtstärke der Truppen vom 1. April ab nur 2500 beträgt. Dementsprechend verlangt der Antrag nur 20 Mill. anstatt der geforderten 29 Mill. Reichskanzler Fürst Bülow erhob sich nun, um die Stellung der verbündeten Regierungen zu begründen. Er führte aus: Die Ihnen heute zur Beschlußfassung unterbreitete Vorlage der verbündeten Regierungen ist vor ihrer Eindringung Gegenstand der eingehendsten Prüfung aller beteiligten Stellen gewesen und in ihr wird nur das Unerläßliche gefordert. Es wird nur diejenige Truppenstärke gefordert, die zur Niederwerfung des Aufstandes und zur Beruhigung unserer Kolonien unerläßlich ist. Wir werden die Truppenzahl in Südwestafrika bis zur Hälfte dieses Rechnungsjahres bis auf rund 8000 Mann vermindern, außerdem nach Fortschreiten der Aktionen und im Laufe des nächsten Jahres die Truppen noch weiter vermindern, und nur die notwendigen Truppen zurücklassen. Die Kommission ist leider zu keinem Resultat gelangt, sondern hat vielmehr alle Anträge und auch die Regierungsvorlage abgelehnt. Der Vorschlag, uns jetzt schon für das Rechnungsjahr 1907 auf eine bestimmte, gegenüber der jetzigen wesentlich verminderten Truppenzahl festzulegen, ist für die verbündeten Regierung unannehmbar. (Bravo rechts.) In dieser Kommission ist Ihnen von sachverständiger militärischer Seite dargelegt worden, daß die verlangte Truppenstärke wirklich notwendig ist und daß eine Verminderung tatsächlich unmöglich ist, weil dadurch die Fortführung der militärischen Aktionen verhindert werden würde. Ein Einstellen der militärischen Aktionen vor der völligen Niederwerfung des Aufstandes würde aber die schwerwiegendsten Folgen nach sich ziehen. Diese Gefahr würde nicht nur bestehen in dem Süden des Schutzgebietes, für Südwestafrika, sie würde auch die Mitte und den Norden schwer gefährden. Wir würden, so sagen alle Kenner der Verhältnisse, binnen kurzer Frist neue Aufstände in allen Teilen unseres Schutzgebietes zu gewärtigen haben, zu deren Niederwerfung die doppelten und dreifachen Opfer und Kosten uns erwachsen würden. (Sehr richtig.) Diese Aufstände würden in Südwestafrika naturgemäß auch auf unsere anderen Kolonien überspringen. Wir würden eine allgemeine Auflehnung gegen die weiße Herrschaft erlangen. (Na, na! links.) Die geringe Anzahl unserer Schutztruppen würde einer solchen Auflehnung nicht gewachsen. Wir stünden dann vor der Frage, ob wir unsere Kolonien mit verhältnismäßig hohen Kosten und Opfer wieder erobern, oder ob wir sie für immer verlieren wollen. Nicht nur die militärischen Autoritäten, sondern alle Sachverständigen stimmen darin überein, daß es sich um die letzten Anstrengungen handelt, um unseren Kolonien dauernde Ruhe und Sicherheit wiederzugeben. Wenn wir vor diesem letzten Schritt zurückschrecken wollten, so würden wir nach meiner Ansicht uns einer schweren Unterlassung, einer nationalen Versündigung schuldig machen. (Lebhafte Zustimmung.) Ich kann nicht annehmen, daß dieses Haus einen solchen in finanzieller und militärischer, in politischer und nationaler Hinsicht gleich bedauerlichen und bedenklichen Entschluß fassen wird. Sollte ich mich hierin täuschen, so würde ich als verantwortlicher Lenker der Reichsgeschäfte vor dem deutschen Volke und vor der Geschichte nicht in der Lage sein, eine solche Kapitulation zu unterschreiben. (Lebhafter Beifall rechts und bei den Nationalliberalen.) Scan der Originalseite auf Server der UB-Freiburg Freiburger Zeitung, Samstag, 15.12.1906, 2. Blatt, S. 1 [Seitenwechsel] Reichskanzler Fürst Bülow: Ich halte es für meine Pflicht, nochmals in letzter Stunde auf die schwere Verantwortung hinzuweisen, welche Sie durch ihre bevorstehenden Beschlüsse auf sich nehmen. Es handelt sich nicht um die Frage, ob wir für unsere Kolonien einige Millionen mehr oder weniger bewilligen werden, es handelt sich, wie der Vertreter des Generalstabs gesagt hat, um die Frage, ob wir unsere Kolonien behaupten wollen oder nicht. Es handelt sich, wie ich als verantwortlicher Leiter der Reichsgeschäfte hinzufüge, um die Frage, ob wir unser Ansehen in der Welt, ob wir unsere Waffenehre (Lebhafte Unruhe links, Bravo rechts), ob wir unsere Stellung in der Welt, ob wir unsere nationale Stellung gefährden wollen, um eine verhältnismäßig geringe Summe zu ersparen, nachdem uns der Aufstand hunderte von Millionen gekostet hat. Wollen wir in einer Stunde des Kleinmuts die Früchte tapferer Anstrengungen gefährden? Sollen die schweren Opfer an Gut und Blut, die wir für unsere Kolonien gebracht haben, vergebens gewesen sein? Die Regierung kann sich nicht von Fraktionen und Parlamenten vorschreiben lassen, wie viel Truppen für kriegerische Operationen notwendig sind. (Sehr richtig, rechts; Unruhe links.) Wohin würde es führen, wenn sich bei uns die Gewohnheit einbürgern wollte, militärische Maßnahmen im Kriegszustande, wovon das Leben, die Gesundheit unserer Truppen, unserer Waffenehre, unter Umständen das Wohl und Wehe und die Zukunft des ganzen Landes abhängt, abhängig zu machen von Fraktionsbeschlüssen und Parteirücksichten. (Lebhaftes Bravo rechts und bei den Nat.) Draußen stehen unsere Soldaten. Das sind Deutsche; sie haben gekämpft, sie haben Anstrengungen erlitten, sie sind im Begrff, den letzten Widerstand niederzuringen. Sollen sie etwa zurück, weil die kleinmütige Regierung aus Scheu vor Krisen und aus Parteirücksichten sie im Stiche läßt? Wie haben andere Völker ihre Kolonialkriege geführt: England, Frankreich und Holland, und sie haben nicht mit der Wimper gezuckt. Soll das deutsche Volk kleiner sein, kleiner dastehen, als andere Völker? Das ist die Frage, auf welche die verbündeten Regierungen eine Antwort fordern, klipp und klar. (Lebhafter Beifall.) Wir alle bedauern es, daß der Aufstand ausgebrochen ist, der uns so viele Leben, so große Summen gekostet hat. Wir können das bedauern, aber mehr können wir nicht. Wir müssen aushalten. Man hat mir das Wort in den Mund gelegt: Nur keine innere Krise. Ich habe das alberne Wort dementieren lassen, es kehrt immer wieder zurück. In Wirklichkeit habe ich natürlich nie etwas derartiges gesagt. Es gibt Situationen, wo ein Zurückweichen vor einer Krisis ein Mangel an Mut, ein Mangel an Pflichtgefühl sein würde. (Lebhaftes Bravo.) Wenn Sie wollen, haben wir die Krise. (Lebhaftes Bravo! Parteien können Forderungen annehmen und ablehnen. Sie tragen keine Verantwortung. (Oho!) Die Regierung aber darf nicht vor den Wünschen und Interessen einzelner Parteien zurückweichen, wenn nationales Ansehen in Frage steht. (Lebhafter Beifall rechts). Vor wenigen Minuten ist mir das Gerücht zugetragen worden, in dieser Frage schöbe ich nicht, sondern ließe mich schieben. Ich führte nur die Direktiven der obersten Stelle aus. Der südwestafrikanische Guerillakrieg sei nur eine Befriedigung des Militarismus. Das ist eine dreiste Unwahrheit. Niemand drängt mich, niemand schiebt mich, ich brauche gar keine Direktiven, um die nationale Notwendigkeit zu erkennen und im vorliegenden Falle lediglich um danach zu verfahren. Es handelt sich hier in keiner Weise um eine Frage des persönlichen Regiments. Es handelt sich lediglich um eine vom Reichskanzler nach gewissenhafter Ueberzeugung vertretene Auffassung der verbündeten Regierungen. Es handelt sich darum, ob wir unsere gesamte koloniale Stellung, ob wir unsere Stellung in der Welt, unser Ansehen nach außen behaupten wollen oder nicht. Glauben Sie, daß so etwas ohne Rückwirkung auf das Ausland bleiben werde? Welchen Eindruck im Auslande würde es machen, wenn die Regierung in dieser Frage kapitulieren wollte und nicht die Kraft fände, ihre nationale Pflicht zu erfüllen. Wir werden unsere Pflicht tun im Vertrauen auf das deutsche Volk. (Lebhafter anhaltender Beifall im Saal und auf den Tribünen. Zischen links.) Darauf wird der freisinnige Antrag mit 171 gegen 176 Stimmen abgelehnt, ebenso die Regierungsvorlage mit 168 gegen 178 Stimmen bei einer Enthaltung. Die Regierungsvorlage ist somit abgelehnt. Hierauf verliest der Reichskanzler eine allerhöchste Botschaft, nach welcher der Reichstag aufgelöst wird. (Stürmischer Beifall, der sich auch auf die Tribünen fortpflanzt.) Die Sozialdemokraten verlassen den Saal. Präsident Graf Ballestrem bringt das Hoch auf den Kaiser aus, in welches das Haus begeistert einstimmt. Schluß gegen 5 ½ Uhr. Scan der Originalseite auf Server der UB-Freiburg |