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Debatte um (Dis-)Kontinuitäten von Kolonialismus und Nationalsozialismus (2008)

(siehe auch iz3w-Vorwort Zum Text)

 

 

Vorläufer des Holocaust? - Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus

von Philip Geck und Anton Rühling

Angestoßen wurde die Debatte über den Zusammenhang von deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus vor allem vom Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer. Er kam nach intensiver Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama zu dem Schluss, dass es sich hierbei um den "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts" gehandelt habe. Zimmerer sieht in dem Krieg einen "ultimative[n] Tabubruch - zu denken und danach zu handeln, dass andere Ethnien einfach vernichtet werden können" 1. Dieser Genozid sei ein "Vorläufer des Holocausts". Dabei betont Zimmerer die große öffentliche Resonanz, die der Krieg bei den deutschen ZeitgenossInnen hervorrief und die sich im Erfolg von Kolonialliteratur widerspiegelte. Die Erfahrung der deutschen Truppen in Südwestafrika, die allgemeine Kolonialbegeisterung im Deutschen Reich sowie personelle und institutionelle Kontinuitäten schufen laut Zimmerer ein "kulturelles Reservoir", aus dem der Nationalsozialismus schöpfen konnte. 2

Zimmerer will den Nationalsozialismus nicht nur auf koloniale Erfahrungen zurückführen, doch er sieht den Südwestafrikakrieg als "wichtigen Ideengeber" 3, als "Bindeglied" 4 zwischen kolonialer Gewalt und den NS-Vernichtungsexzessen. Auch wenn Zimmerer die unterschiedliche Rolle des Staates in Kolonialismus und Nationalsozialismus anerkennt, sieht er die nationalsozialistischen Verbrechen als "radikalste Ausprägung" in der Geschichte des Völkermords. Beide Kriege fielen somit unter die gemeinsame Kategorie des Genozids.

Zustimmung und Kritik
Mit seinen Thesen fand Zimmerer einige Zustimmung. Auch Henning Melber und Reinhart Kößler sehen Kontinuitäten des deutschen Kolonialismus und stellen weitere deutsche Kolonialkriege zur Diskussion. In einer ganzen Serie von Kriegen, ob in Südwestafrika, Ostafrika oder Kamerun, sei der Völkermord zumindest als Möglichkeit in Betracht gezogen worden. Im Zuge der Postcolonial Studies postulieren Kößler / Melber eine Wechselwirkung zwischen Kolonien und Europa. Koloniale Herrschaftspraxis und Ideologie seien ein wichtiges Element auf dem Weg zum Dritten Reich. 5

Die Verbindungslinien, die Zimmerer zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zeichnet, haben heftigen Widerspruch herausgefordert. KritikerInnen der Kontinuitätsthese wie Birthe Kundrus greifen Zimmerers Argumentation gleich im Ansatz an und bezweifeln, ob es sich im Herero und Nama-Krieg überhaupt um einen Genozid gehandelt habe. Zimmerer beruft sich in seiner Argumentation auf die UN-Genozidkonvention, für die eine Intention der Täter zur Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe ausschlaggebend ist. Es ist jedoch umstritten, ob der Wille zur Vernichtung wirklich gegeben war. Für die amerikanische Historikerin Isabel Hull liegt der Grund für die ausartende Gewalt des Kolonialkrieges in Südwestafrika in der deutschen Militärkultur, die den totalen militärischen Sieg forderte und dabei zerstörerische Tendenzen entwickelte, ohne dass eine totale Vernichtung geplant war. Die Proklamation des deutschen Befehlshabers von Trotha, in der er die Herero praktisch für vogelfrei erklärt, sei ex post facto erfolgt. Schon davor habe das - nach damaligen Maßstäben - Versagen der deutschen Truppen die Gewaltspirale in Gang gesetzt. 6 Der Südwestafrikakrieg wird in dieser Lesart zu einer aus dem Ruder gelaufenen Strafaktion und nicht zu einem intendierten Völkermord. 7

Robert Gerwarth und Stephan Malinowski sehen ein weiteres Problem in der Argumentation Zimmerers. Auf der einen Seite untersuche Zimmerer im Sinne der Postcolonial Studies die Verbindungen zwischen europäischem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus, auf der anderen Seite konzentriere er sich vor allem auf einen deutschen Kolonialkrieg und rufe so Erinnerungen an die deutsche Sonderwegsthese wach. Denn eingeordnet in den Kontext des westlichen Kolonialismus verliere der Südwestafrikakrieg seinen paradigmatischen Charakter - und ohne den "Tabubruch" werde Zimmerers These hinfällig. 8 Die strukturell ähnliche Kolonialpolitik der Briten und Franzosen habe nicht zu faschistischen Staatsformen geführt, stellt auch Pascal Grosse heraus. 9

Die KritikerInnen der Kontinuitätsthese sind sich darin einig, dass der Kolonialkrieg in keinem Verhältnis zu den Dimensionen des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges steht. Während in Südwestafrika wenige Tausend Soldaten zum Einsatz kamen, waren im Zweiten Weltkrieg bis zu 18 Millionen Soldaten beteiligt. Auch personelle Kontinuitäten wie die des General Lettow-Vorbeck, der als kolonialer Kriegsheld in der Weimarer Republik zum Idol der Rechten wurde, gehörten zu den Ausnahmen. Als viel entscheidender sehen die KritikerInnen den Ersten Weltkrieg mit seinen einschneidenden Veränderungen, den Zimmerer in seiner Argumentation nicht berücksichtige.

Ostland gleich Kolonialland?

Im Rahmen dieser Debatte wird noch eine weitere Fragestellung diskutiert: War der nationalsozialistische Krieg gegen die UdSSR und Polen ein kolonialer Eroberungskrieg? In Konzepten wie "Rasse" und "Raum" sieht Zimmerer die grundlegenden Parallelen zwischen europäischem Kolonialismus und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik; hier geht er über den südwestafrikanischen Kontext hinaus. Ein rassistisches Weltbild und die damit verbundene Hierarchisierung der Ethnien bildete die Grundlage für eine nach "Lebensraum" strebende Ideologie. Sowohl der Kolonialismus als auch der Nationalsozialismus griffen in ihrer Eroberungs- und Beherrschungspolitik auf dieses Denken zurück. Zimmerer interpretiert deshalb das "Ostland" als Kolonialland und sieht strukturelle Ähnlichkeiten zum Südwestafrikakrieg: "Die Einordnung als ‚Rassenkrieg', das Abdrängen in lebensfeindliche Gegenden, die Zerstörung der Nahrungsgrundlagen, die summarischen Exekutionen und die Vernichtung durch Vernachlässigung sind deutliche Parallelen." 10 Die asymmetrische Kriegsführung außerhalb der eigenen Staatsgrenzen und die Entmenschlichung des Gegners seien weitere Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Kolonialkriegen und dem NS-Krieg.

Letzteres gestehen auch Gerwarth und Malinowski zu. Im Nationalsozialismus fehle jedoch die Ambivalenz des Kolonialismus, der immer zwischen Entwicklung und Vernichtung geschwankt habe. Während die Kolonialherrschaft Kompromissstrukturen wie etwa den Aufbau lokaler Eliten entwickelt habe, sei die nationalsozialistische Vernichtung der osteuropäischen Länder "nicht Mittel, sondern Zweck" 11 gewesen. Hier, so Gerwarth und Malinowski, endeten die Parallelen. Zudem sei das NS-Regime ein neuer Staatstypus, in dem die Vernichtung im Einklang mit der Politik war, während es im Kolonialismus politische Kontrolle und Opposition gab.

Methodische Überlegungen

Die Debatte hat auch methodische Grundfragen der Geschichtswissenschaft aufgeworfen. Birthe Kundrus verweist auf die sehr unterschiedlichen Begriffe der Kontinuitätsthese. Egal ob von "Traditionen", "Vorläufern", "strukturellen Ähnlichkeiten" oder "Kontinuitäten" gesprochen werde - diese Schlüsselbegriffe blieben mehrdeutig. Oft werde ein kausaler Zusammenhang impliziert und nicht berücksichtigt, dass Gesellschaften selbst Traditionen produzieren. Für Kundrus ist die Rezeption in der Gegenwart wichtiger als Beharrungskräfte aus der Vergangenheit. Deshalb plädiert sie dafür, von "Transfer" zu sprechen, wenn das NS-Regime auf koloniale Begrifflichkeiten wie "Konzentrationslager" zurückgreift, diese jedoch auf die eigene Situation anwendet. 12

Zudem kritisiert Kundrus die Verwendung des Genozid-Begriffes, der zwar zu wertvollen Fragestellungen geführt habe, mit seiner begrenzten Definition jedoch zu stark einenge. Der Südwestafrikakrieg und der Ostfeldzug seien einzigartige historische Phänomene, die sich nicht unter der Kategorie Genozid vereinen ließen. Beide ähnelten sich in ihrer entgrenzten Gewalt, bei denen der situative Charakter überwogen habe - unabhängig von Kontinuitäten und Transfers. 13

Zimmerers These hat den deutschen Kolonialismus neu zur Diskussion gestellt. Sein Versuch, dessen Bedeutung für das NS-Regime an konkreten Beispielen festzumachen, bleibt umstritten. Die weithin anerkannte Beziehung zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ist nach wie vor schwer zu fassen. Der Vergleich regt jedoch an, das jeweilig Spezifische herauszuarbeiten und neu darüber nachzudenken, welche Rolle mögliche Vorläufer und situative Elemente im Nationalsozialismus gespielt haben.

Philip Geck und Anton Rühling studieren Geschichte in Freiburg.

Anmerkungen:

1 Jürgen Zimmerer: Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zu einer Archäologie des genozidalen Gedankens, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 1119.

2 Jürgen Zimmerer: Rassenkrieg und Völkermord. Der Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika und die Globalgeschichte des Genozids, in: Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Henning Melber, Frankfurt a. M. 2005, S. 48.

3 Zimmerer: Holocaust und Kolonialismus, a.a.O., S. 1119.

4 Jürgen Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid, in: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, hrsg. v. Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller, Berlin 2003, S. 62.

5 Reinhart Kößler/ Henning Melber: Völkermord und Gedenken. Der Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika 1904-1908, in: Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Frankfurt a. M. 2004, S. 37-75.

6 Isabel V. Hull: Absolute Destruction. Military Culture and Practices of War in Imperial Germany, Ithaca und London 2005, S. 55; Birthe Kundrus: Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur "Kolonialisierung" des Nationalsozialismus, in: Werkstatt Geschichte 43 (2006), S. 45-62.

7 Boris Barth: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorie, Kontroversen, München 2006, S. 131.

8 Robert Gerwarth/ Stephan Malinowski: Der Holocaust als "kolonialer Genozid"? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439-466.

9 Pascal Grosse: What Does German Colonialism have to do with National Socialism. A Conceptual Framework, in: Germany's Colonial Past, hrsg. v. Eric Ames u.a., Lincoln u. London 2005, S. 115-134.

10 Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika, a.a.O., S. 60.

11 Gerwarth/ Malinowski: "kolonialer Genozid"?, a.a.O., S. 458.

12 Kundrus: Kontinuitäten, a.a.O.

13 Birthe Kundrus/ Henning Strotbek: "Genozid". Grenzen und Möglichkeiten eines Forschungsbegriffs - ein Literaturbericht, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 397-423.



Übersicht zur Debatte: iz3w-Vorwort Zum Text

Philip Geck und Anton Rühling: Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text

Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text

Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid. Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript) Zum Text

Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede. Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript) Zum Text

Podiumsdiskussion (Transkription) Zum Text

Seminar (Transkription) Zum Text

Heiko Wegmann: Kokospalme mit Hakenkreuz - Die Kolonialbewegung in Freiburg während des Nationalsozialismus (pdf, aus iz3w 313) Zum Text

 

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