iz3w-logo

Hintergrundtexte auf www.freiburg-postkolonial.de

Debatte um (Dis-)Kontinuitäten von Kolonialismus und Nationalsozialismus (2008)

(siehe auch iz3w-Vorwort Zum Text)

 

 

 

Entscheidende Unterschiede - Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich

von Birthe Kundrus

Es ist zweifellos sinnvoll, Kolonialismus und Nationalsozialismus als Herrschaftsformen in ihren Gewaltdimensionen zu vergleichen. Ebenfalls lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche neuen Erkenntnisse eine derartige Übertragung von Analysekategorien zum Kolonialismus in die Zeit des "Dritten Reiches" bringen kann. Jürgen Zimmerer gebührt das Verdienst, diese wichtigen Debatten angestoßen zu haben. Allerdings greift die Diskussion konzeptionell, methodisch und argumentativ an manchen Stellen zu kurz. Das Konzept "Genozid" führt uns in die Irre. Methodisch würde ich beim Thema "Verbindungslinien" zwischen Kontinuitäten, Parallelen und Transfers unterscheiden wollen - eine Unterscheidung, auf die auch meine Antwort gründet, dass es zwar einige Analogien zwischen dem exzessiven Gewalteinsatz in Namibia und beim deutschen Ostfeldzug gibt, beide Ereignisse aber jeweils anderen Logiken folgten und anderen Dynamiken entsprangen. Nicht zuletzt halte ich eine betont nationalgeschichtliche Perspektive für eine Verengung.

Zwei Fragen versuche ich im Folgenden zu beantworten: 1. Warum soll der Mord an den Herero und Nama als erster deutscher Genozid gelten? 2. Warum hat der Kolonialkrieg eine große Bedeutung für den NS-Vernichtungskrieg?

1. Erster deutscher Genozid?

Nach Jürgen Zimmerer sind es zwei Faktoren, die die Gewaltereignisse von 1904-1908 in Deutsch-Südwestafrika aus der Reihe der zeitgenössischen Kriege herausheben und in eine Verbindungslinie mit der deutschen Kriegführung im Osten 1939-1945 bringen sollen: die Systematik, mit der in "Südwest" gebrandschatzt und gemordet wurde, und das aus dieser Systematik und der Intentionalität dieser Tat resultierende Gesamtbild, das sich als Genozid klassifizieren lasse, analog zur UN-Genoziddefinition. Aber stimmt das? Lässt sich die massenhafte entgrenzte Gewalt, die Brutalität in Namibia als überwiegend systematisch und intentional kennzeichnen? Nein. In beiden Fällen haben wir es mit Ereignissen massenhafter exzessiver Gewalt zu tun. In beiden Fällen wurden Gewalttaten erlaubt, die andernorts verboten waren, und Gewaltexzesse diktiert, die normative Grenzen überschritten und deshalb besonderer Legitimation bedurften. Die Dynamiken dieser Entregelung waren aber sehr unterschiedlich, wir haben es hier mit zwei sehr ungleichen Szenarien exzessiver Gewaltentfaltung zu tun. Und weil die Wege zu dieser Brutalität, ihre Dimensionen, Logiken sich unterschieden, erscheint es verfehlt, beide Ereignisse auf denselben Typus festlegen zu wollen: den einer genozidalen Kriegführung. 1

Die Genozid-Definition ist aus vielerlei Gründen wenig hilfreich für eine historische Gewaltforschung. Mein Haupteinwand gegen den Begriff ist, dass er uns ein Bild von exzessiver Gewalt vermittelt, das die Intention der Täter in den Mittelpunkt stellt, andere Faktoren aber, insbesondere den situativen Faktor, das Kontingente, das Unvorhergesehene, das Chaos ausblendet. 2 Der Terminus Genozid suggeriert: Megagewaltereignisse dieser Art, Völkermorde, basierten hauptsächlich auf strategischer Planung, zielgerichteter Intention und abwägendem Kalkül. Das kann so sein, im Fall des Krieges gegen die Herero jedoch sind diese Momente nicht so hoch zu veranschlagen, wie Jürgen Zimmerer annimmt.

Als der Krieg im Januar 1904 ausbrach, war die Erwartungshaltung der militärischen und politischen Führung in Berlin klar: rasche Entwaffnung und Niederschlagung des "Aufstandes". 3 Die Ereignisse sollten sich aber anders entwickeln. Es lassen sich mehrere Faktoren zur Eskalation nachzeichnen:

1. Faktor zur Radikalisierung: das Feindbild. Der Befehlshaber vor Ort, Theodor Leutwein, hielt die Genfer Konvention für nicht anwendbar auf dem afrikanischen Schauplatz, er unterschied nicht zwischen Nichtkombattanten und Kombattanten und ließ in der Regel keine Kriegsgefangenen machen. 4 Diese systematische Brutalisierung seiner Soldaten unterscheidet ihn kaum von seinen europäischen oder amerikanischen Kollegen und ist deshalb noch keineswegs gleichzusetzen mit einer Vernichtungskriegführung, sehr wohl aber mit einer ersten Entgrenzung von Krieg. 5

2. Faktor: die Zeit. Die militärische Führung ließ die Macht nicht vor Ort, sondern stellte sie unter den Befehl des Großen Generalstabes (8.2.1904). Denn Leutwein hatte in den Augen Berlins versagt. Er hatte die Herero kriegsmüde machen wollen - was Zeit gebraucht hätte, die ihm der Generalstab aber nicht zugestehen wollte. Eine klassische Situation für asymmetrische Kriege: die knappste Ressource des Starken ist Zeit. Denn er ist zum Sieg verdammt. Hingegen gilt: Solange der Schwache nicht verliert, hat er gewonnen.

3. Faktor: persönliche Dispositionen und Interessenlagen. Lothar von Trotha, ein rassistischer Hardliner, wurde zum Kommandeur ernannt und erweiterte die Befehle Leutweins, indem er noch vor seiner Ankunft im Juni 1904 anordnete, alle bewaffneten Rebellen ohne vorgängiges gerichtliches Verfahren erschießen zu lassen. 6 Gleichzeitig ließ er aber auch Kriegsgefangenenlager für 8.000 Herero einrichten. Diese Maßnahme spricht wiederum dafür, dass er Gegner zumindest zunächst am Leben lassen, sie festsetzen wollte - und damit gegen eine umfassende Vernichtungsabsicht zu diesem Zeitpunkt. Vermutlich lautete das strategische Ziel die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte, die Gefangennahme möglichst vieler Nichtkombattanten und die dadurch mögliche völlige Unterwerfung der Herero.

4. Faktor: die Situation. Die katastrophale Niederlage am Waterberg brachte ganz entgegen Trothas Intention keinen glorreichen Vernichtungssieg, auch wenn er die Herero de facto militärisch zerschlagen hatte. Hier bewies sich nicht deutsche militärische Kompetenz, sondern militärische Inkompetenz. Die Deutschen hatten nicht damit gerechnet, dass die Herero durch das Sandfeld Richtung britische Grenze marschierten. Die faktische Erfolglosigkeit ließ eine besondere Härte als probates Mittel erscheinen, den empfundenen Prestigeverlust vor Ort auszugleichen. 7

5. Faktor: das Chaos. Frustrierte Hybris trieb nun von Trotha ebenso an wie die Direktiven der deutschen Militärkultur, nämlich bis zum totalen Sieg weiterzukämpfen. Der Auftrag der folgenden Wochen lautete Verfolgen und Bestrafen der "unbotmäßigen" Herero. Aber die deutschen Truppen waren erschöpft. Wie systematisch und effektiv das Verfolgen, Nachsetzen oder auch Abriegeln der Wasserlöcher in diesem Riesengebiet war, ist äußerst umstritten. 8 Es gab mit einiger Sicherheit keine Kampfverwicklungen mehr, sondern die Deutschen versuchten in der Regel, die fliehenden oder sich ergebenden Herero zu erschießen. 9 In diese Phase fällt der so genannte "Vernichtungsbefehl" vom Oktober 1904, der eigentlich eine Verlautbarung an die Herero war. 10 Hier gestand Trotha indirekt das militärische Scheitern seiner Taktik der Einkesselung ein, indem er nun nämlich auf eine ganz andere räumliche Orientierung setzte - von der Einkesselung der Feinde zu ihrer Vertreibung: "Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen". Insofern würde ich Boris Barth zustimmen, dass Trotha nunmehr eine Exterritorialisierung anvisierte. 11 Parallel jedoch versuchte er, noch der meisten Herero habhaft zu werden. Dieses Lavieren zwischen Vertreibung und Mord verstand die Truppe dahingehend, aufgegriffene Herero umzubringen.

6. Faktor: Zögerliche Deeskalation. Nach vehementer Kritik aus verschiedenen Teilen der Öffentlichkeit beschloss die Reichsregierung, Trotha nicht mehr gewähren zu lassen. Er musste die Proklamation und seinen Befehl auf telegraphischen Gegenbefehl des Generalstabes aus Berlin zurücknehmen. Zudem wurde er angewiesen, mit Ausnahme der Rädelsführer das Leben der Herero zu schonen, sie zur Zwangsarbeit einzusetzen und hierfür geeignete Sammellager zu errichten. Die Verfolgung der Herero in der Omaheke wurde fortgesetzt.

Aufgrund dieses Gewaltszenarios lässt sich folgendes schlussfolgern:

1. Der Krieg 1904 war wie fast alle Kolonialkriege ein asymmetrischer Konflikt, der sich durch strukturelle Ungleichartigkeiten 12 auszeichnet, etwa hinsichtlich Waffen, Mentalitäten oder Vorstellungen von Kriegführung. In ihm wurde die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten aufgehoben und er wurde von beiden Seiten mit äußerster Brutalität ausgefochten.

2. Die meisten Herero fielen nicht in Kampfhandlungen, sondern wurden entweder von den Deutschen niedergeschossen oder starben weit weg von ihnen. Sie verhungerten und verdursteten in der Steppe, oder sie starben an Unterversorgung, Seuchen und Krankheiten in den Lagern. 13

3. Der berüchtigte "Vernichtungsbefehl" vom August 1904 ist nicht der Auftakt, sondern eine weitere Stufe der militärischen Aktionen. Er ist kein Befehl zum Völkermord, er intendiert nicht die Entgrenzung von Gewalt, sondern die Begrenzung und Regelung: er erteilt nochmals eine carte blanche zum Töten von Männern, untersagt aber Massaker an Frauen und Kindern, um die Disziplin der Truppe sicherzustellen. Der "Befehl" sanktioniert damit die Praktiken, die schon ausgeübt worden waren. Er bestätigte sie genauso, wie er sie fürderhin erwartete. Das Ziel nach dem Fiasko am Waterberg war das Verschwinden der Herero - so oder so, über die Grenze oder durch Erschießen.

4. Historiographisch ist es ein großes Problem, die Kriegführung und die Verhaltensweisen der Herero nachvollziehen zu wollen. Sie standen nach der Einkesselung am Waterberg vor einem unlöslichen Dilemma: entweder sie ergaben sich in die Hand des intransigenten Trotha oder flüchteten ins Sandfeld. Sie wählten das aus ihrer Sicht kleinere, aber risikoreiche Übel, die Flucht. Diese Entscheidung wiederum ließ bei Trotha die Idee Gestalt gewinnen, die Herero zu vertreiben.

5. Trotha führte zwar wie alle deutschen Militärs seiner Zeit den Vernichtungsbegriff häufig im Munde. Letztlich aber scheint es, als ob die Bedeutungsoffenheit dieses Begriffes -zwischen Niederringung des Gegners und tatsächlicher physischer Auslöschung einer ganzen Gesellschaft - ihm als Möglichkeitsraum diente, in dem er seine Pläne und Befehle anordnete. 14

6. Es gibt offenbar eine signifikant höhere Überlebensquote von weiblichen Herero (6 oder 7 zu 1). Diese Überlebensraten lassen vermuten, dass es eine Tendenz gab, Frauen eher als Männer gefangen zu nehmen. 15 Die Zahlen bestätigen den Eindruck einer Ambiguität der deutschen Kriegführung. Wie mit Frauen und Kindern umgegangen werden sollte, blieb offenbar unklar.

7. Das scheint mir das Besondere am "Herero-Genozid" zu sein: Nur auf den ersten Blick bestätigt er die These von intentionalen Genoziden. Schaut man genauer hin, sieht man Lavieren und Unsicherheit und eine je nach Situation wieder neu formulierte Zielvorgabe. Dieselbe Ambiguität lässt sich vermutlich auch im Hinblick auf die Lager festhalten. Auch für diese ist es schwer zu sagen, wie systematisch oder unsystematisch das Sterben von Seiten der Deutschen betrieben oder hingenommen wurde, wie sehr Inkompetenz, Überforderung, Planlosigkeit die Szenerie beherrschten - oder tödliches Kalkül. Gerade wegen diesen Uneindeutigkeiten, wegen diesem Lavieren zwischen Vertreibung und Erschießen, Absicht und Überforderung, Unwillen und Unfähigkeit ist es aus meiner Sicht unabdingbar, sich vom Konzept des Genozids zu lösen und nicht weiter auf einem Modell zu beharren, in dem es einen Lenker gibt, der alle von vornherein umbringen wollte - und so geschah es. In der Regel geschieht es so eben nicht, sondern es gibt Eskalationen, Zusammenläufe, Kontingenzen, persönliche Dispositionen, die ganz wesentlich für Entgrenzungen oder Einhegungen sind. Für diese Dynamik sind die Geschehnisse in Afrika ein anschauliches Beispiel. Ausschlaggebend war nicht eine Vernichtungsabsicht von Trothas. Vielmehr zeigt der Herero-Krieg unterschiedliche Grade und Motive strategischer Kalkuliertheit, systematischen Mordens und unsystematischem Sterbenlassens.

Wie lässt sich nun der Hererokrieg in einer Gewaltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verorten? Darüber kann man im Augenblick nur spekulieren, es mangelt an systematischen Vergleichsanalysen. Einerseits ließe sich angesichts der Eskalation anführen, dass dieser Fall den "üblichen" kolonialen Gewaltrahmen sprengte und aus der imperialen Pazifizierungs- und Annexionsgewalt "herausragt" 16 . Aber worin läge dann dieser deutsche Sonderweg? Gemessen an der Zahl der Toten und an gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Radikalisierungen wurde hier jedenfalls keine neue Stufe erreicht, blickt man auf andere koloniale Schauplätze, die Philippinen, Kuba oder auch Algerien. Immer wieder kam es zu Vertreibungen und Vernichtungszügen. Insofern könnte man andererseits zu der Überzeugung gelangen, dass die Ähnlichkeiten mit anderen Kolonialkriegen überwiegen. Es gab eine übereinstimmende Ausgangskonstellation der Pazifizierung, der Asymmetrie und damit auch der entgrenzten Gewalt, aber im einzelnen Fall auch unterschiedlich wirksame situative Faktoren. 17

Damit ließe sich formulieren: die exzessive Gewalt in Namibia war kein Anfang, sondern ein Endpunkt von grausamen savage little wars des 19. Jahrhunderts - mit den Deutschen auch auf diesem Gebiet als imperial late comer. 18 Sowieso sollte man, bevor man den zweiten Schritt unternimmt, den ersten wagen, nämlich den Krieg in Deutsch-Südwestafrika in seiner Epoche zu kontextualisieren. Das hieße nach Verbindungslinien mit anderen deutschen 19 wie nichtdeutschen kolonialen counter insurgencies zu fahnden und dabei auch zu berücksichtigen, wie sehr das Militär in einem transnationalen Zusammenhang agierte, indem nicht nur auf eigene Erfahrungen zurückgriffen wurde, sondern auch auf die anderer Staaten. 20 Die Deutschen werteten offenbar intensiv den südafrikanischen Burenkrieg 21 aus, bei der Intervention im chinesischen Boxerkrieg 22 agierte man gleich als alliierte Streitkraft. Im Anschluss an diese intra- und international vergleichenden Ergebnisse ließe sich dann fragen, welche Spuren Kolonialkriege generell, und nicht nur die deutschen, bei den jeweils kriegführenden Nationen in nichtkolonialen Kriegen hinterlassen haben. Welche Wege führten von den Kolonialkriegen westlicher oder östlicher Mächte zum Ersten Weltkrieg, zu den Kriegen der Zwischenkriegszeit oder zum Zweiten Weltkrieg? 23 Diese Erweiterung einer rein nationalen Perspektive erscheint mir ebenso unumgänglich wie das Aufbrechen linearer Konstruktionen von Geschichtsverläufen.

Gehen wir aber für den Moment noch einen Schritt zurück und bleiben im nationalen Rahmen. Wie ist es dann um die "afrikanischen Wurzeln" des Holocaust und des Vernichtungskrieges bestellt? Lassen sich die deutschen Massenverbrechen auch aus der deutschen Kolonialgeschichte erklären?

2. Der Kolonialkrieg - bedeutsam für den NS-Vernichtungskrieg?

Die These vom kolonialen Ideengeber und Bindeglied behauptet, es gebe eine Kontinuität der Gewalt. Die Stetigkeit bestünde in einer Brutalisierung, im Sinne eines den Krieg gegen die Herero überdauernden Abbaus von Hemmungen gegenüber gewaltsamen Verhalten nicht allein gegen Afrikaner, sondern auch gegen andere "Rassen", insbesondere Juden und "Slawen". Mit anderen Worten: es habe eine spezifisch deutsche genozidale Disposition der Kriegführung gegeben, die ihren Anfang im Völkermord an den Herero nahm und ihr Ende im Zweiten Weltkrieg fand. Aber es ist schwer, valide einzuschätzen, ob die Deutschen etwas lernten aus den Geschehnissen im südlichen Afrika und ob es dann die Einsicht war, dass man ganze Völker umbringen kann. 24 Diese Erkenntnis hat die Menschheit wohl seit der Antike verinnerlicht. Außerdem: Warum hat der vorgebliche "Tabubruch" nicht bei den Ländern mit der längsten und langfristig gewaltreichsten Kolonialtradition verfangen? 25

Umgekehrt gilt: Wenn man feststellt, dass alle europäischen Staaten ein exzessives koloniales Gewalterbe aufweisen, allein aber die Deutschen mit dem Zweiten Weltkrieg das größte Maß an Zerstörung innerhalb Europas entfesselten, dann rückt das koloniale Erbe als Beschleunigungsmoment in den Hintergrund und offenbar andere Faktoren für das Ausscheren Deutschlands in den Vordergrund. Angemessen wären auch für diesen Gegenstand eine Kontextualisierung und ein Abwägen kolonialer und nichtkolonialer Elemente.

Es ist ein ungemein schwieriges Unterfangen, Traditionen von Gewalt - Haltungen wie Praxen -, bestimmen zu wollen. Es stellt sich die Frage, ob und wie denn die kolonialen Gewaltpraxen und -einstellungen in das Gedächtnis des Militärs, in Ausbildung und Weltbild dieser Institution eingeflossen sind. Sind koloniale Dispositionen im Ersten Weltkrieg ausgeübt worden, haben sie sich in den Kämpfen der Freikorpsverbände Bahn gebrochen, haben sie im Mantel der Zivilität bis 1935 fortexistiert und dann positiv konnotiert und sanktioniert 1939/1941 eine Wiederbelebung erfahren? Und wie ließe sich ein derartiger Verlauf belegen? Kurz: Was sind die Mechanismen der Weitergabe von Gewalterfahrungen? Hierin liegt die theoretische und methodische Herausforderung dieser Kontinuitätsthese, der eine zweite Herausforderung auf dem Fuße folgt: nämlich wie sich dieser Kern, diese genozidale Disposition unter den Bedingungen eines Wechsels der Schauplätze, von Übersee nach Europa, erhielt, kurz: wie es also nicht nur um das Fortbestehen in der Zeit, sondern auch im Raum bestellt war.

Zweitens würde ich Kontinuitäten von Transfers unterscheiden. Bei Transfers stehen weniger die Beharrungskräfte der Vergangenheit, als deren Rezeption durch die Nachkommen im Mittelpunkt. Also nicht, ob die Deutschen in ihrem Gewaltauftreten Großbritannien, das Spätosmanische Reich oder Stalin imitierten, nicht, wie die Briten tatsächlich Indien verwalteten, nicht, wie die Türken tatsächlich die Armenier umbrachten oder wie die Sowjetunion tatsächlich Vertreibungen auf ihrem Gebiet realisierte, wäre hier von Interesse, sondern wie im Prozess der Auseinandersetzung mit diesen Ideen, Einrichtungen und Taten der Nationalsozialismus seine eigene Gewaltförmigkeit mitproduzierte und dynamisierte.

Um eine dritte systematische Ebene geht es, wenn wir von Parallelen, von strukturellen Analogien sprechen. Dann würde die Frage lauten, ob sich in der NS-Kriegführung Muster der deutschen bzw. europäischen Kolonialkriegführung wieder finden. Auf dieser Ebene lassen sich durchaus Parallelen zwischen der Kriegführung gegen die Herero und gegen die Sowjetunion finden: Etwa die Grundstruktur von Eskalationsstufen, ähnliche Erwartungshaltungen hinsichtlich eines schnellen und raschen Sieges, ein möglichst rücksichtsloses Vorgehen, gespeist auch aus Rassismus und Überlegenheitsgefühlen, eine überwiegend fehlende Empathie mit dem Gegner, die Zerstörung von Lebensgrundlagen, die Hereinnahme von nichtdeutschen Hilfstruppen oder die berühmte deutsche Auftragstaktik, die den Soldaten vor Ort viel Spielraum für eigene Initiativen ließ.

Aber die ausschlaggebenden Konstellationen und Logiken der beiden Kriege unterschieden sich, weshalb die deutsche Kriegführung im Osten ein ungleich größeres Destruktionsvermögen entwickelte:

1. Auch wenn es um Eroberung und Unterwerfung ging, der Krieg gegen die UdSSR war kein asymmetrischer Konflikt. Gewiss mögen sich asymmetrische Strukturen, etwa der Partisanenkrieg, finden, die Grundstruktur war indes symmetrisch. Es handelte sich um einen staatlich getragenen Konflikt, ja mehr noch: Hier standen sich zwei Imperialmächte auf gleicher Augenhöhe gegenüber, die beide eine vielleicht nicht totale, aber doch erschöpfende Ressourcenmobilisierung und den Einsatz umfassend technisierter Massenheere veranlassten.

2. Der Krieg gegen die Sowjetunion war als Vernichtungskrieg von Anfang an politisch gewollt. In einem politisch-militärischen Geflecht von Weisungen, Anordnungen, Belehrungen und Befehlen - z.B. Aufgabenabgrenzung zwischen Heer und Einsatzgruppen der SS, "Kommissarbefehl", Aussetzung der kriegsgerichtlichen Ahndung von Verbrechen der deutschen Soldaten an der Bevölkerung, "Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland" 26 - setzten Wehrmacht und Heeresführung die Forderungen Hitlers und der NS-Spitze um: "rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes" 27 . Auch wenn es situative Eskalationen oder Neuorientierungen gab, diese Zielvorgabe der ungehemmten und radikal ergebnisorientierten Gewaltanwendung blieb bestimmend. Es gab in Berlin nie die Überlegung auszusteigen, keine Intervention aufzuhören, kein kontrollierendes Domestizieren. Personelle Ablösungen mochten graduell etwas ändern, bewirkten aber keinen Richtungswechsel. Zugespitzt formuliert: Hier ging es nicht um das Versagen ziviler Einhegung, hier existierte überhaupt keine zivile Einhegung mehr. Und das ist ein zweiter entscheidender Unterschied. Weniger eskalierende Kriegserfahrungen, nicht die Frustration eines einzelnen Oberbefehlshabers, nicht die Fixierung, den Gegner bestrafen und sich rächen zu wollen, sondern die Kollektivvision eines immerwährenden deutschen Kampfes hielt das Rad der Gewalt am Laufen. 28 Im Osten wurde der Krieg politisch gewollt zum endgültigen Weltanschauungskampf, der Ausnahmezustand zum Normalzustand. Die politische Funktionalität entgrenzter Gewalt stand nicht mehr zur Debatte. 29 Das zur Norm erhobene Übermaß ist, so Michael Geyer, der Schlüssel zur deutschen Kriegführung. 30

3. Auch mit Blick auf den Holocaust lassen sich zunächst strukturelle Parallelen konstatieren: der Krieg öffnete einen Möglichkeitsraum, hier wie dort waren die Herero bzw. die Juden ein Problem. Beide sollten verschwinden, eine Lösung dazu wurde in Exterritorialisierungen gesucht.

Aber es bedurfte für das Destruktionsvermögen der Shoah einer spezifischen Konstellation. Wie diese genau zu konturieren wäre, darüber bestanden in der Holocaustforschung lange Zeit Kontroversen; inzwischen gilt ein enger Zusammenhang von Antisemitismus - genauer eines sich aus eigenen Traditionsbeständen speisenden Erlösungsantisemitismus -, Kriegsführung, Besatzungspolitik, "Umvolkungsplänen" ("Generalplan Ost") und Ernährungspolitik als wahrscheinlich. 31 Alle diesen Faktoren mündeten letztlich in ein hochverdichtetes und hochsystematisches Töten - unterschiedslos und geschlechtsübergreifend. 32 Weder führte also die Angst um einen eventuellen Prestige- oder Herrschaftsverlust wie in den Kolonien zu den Massentötungen in Osteuropa, noch ergaben sie sich aus Kampfhandlungen. Der reale jüdische Widerstand spielte für die Vernichtungspraxis keine Rolle.

Zusammengefasst war und ist kriegerische exzessive Gewalt ein höchst variables Ereignis, auch wenn das Ergebnis immer gleich entsetzlich erscheint. Mag das deutsche Morden in Afrika nicht auf systematische Ausrottung angelegt gewesen sein, so bleibt es eine verbrecherische Kriegführung. Theoretische Vorannahmen über das Wesen entgrenzter Gewalt helfen nur dann weiter, wenn sie sich empirisch bewähren und vor allem die Prozesshaftigkeit dieser Gewalt zu erfassen vermögen. Deshalb ist auch die Rekonstruktion der Geschehnisse so dringend.

Die Bedeutung der deutschen Kolonialgeschichte für die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert wird nicht geschmälert, wenn sich die Verbindungslinien zwischen ihrer Gewaltförmigkeit und dem eliminatorischen Ostkrieg der Nationalsozialisten als eher dünn erweisen. Vielleicht sollten wir schlicht zeitnäher suchen. Dann wäre zu klären, inwiefern die deutschen Aktionen in eine Art europäisches oder west-östliches colonial archive eingegangen sind. Und zweitens wäre der Blick stärker auf den Ersten Weltkrieg zu richten.

Birthe Kundrus ist Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung.

nach oben home

Anmerkungen:

1 Der Begriff des Vernichtungskrieges meint hier die totale Vernichtung der Streitkräfte und der Zivilbevölkerung eines Gegners. Zum Konzept des Vernichtungskrieges vgl. Jan Philipp Reemtsma, Die Idee des Vernichtungskrieges. Clausewitz - Ludendorff - Hitler, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995, S. 377-401; Robert T. Foley, From Volkskrieg to Vernichtungskrieg. German concepts of warfare 1871-1935, in: Anja V. Hartmann/Beatrice Heuser (Hrsg.), War, Peace and World Orders in European History, London/New York 2001, S. 214-225. Zurück

2 Diese Zentrierung auf eine individuell rückführbare Absicht ist aus der juristischen Genese und Perspektive der Genozid-Konvention verständlich. Die wissenschaftliche Analyse genozidaler Ereignisse zeigt aber, dass die Interessenslagen von Tätern viel weniger rekonstruierbar sind als deren Taten oder Legitimationen. Zurück

3 Beste Darstellung der Abläufe bei Isabel V. Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca and London 2004; einschlägig Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884-1915), Berlin 1984². Zurück

4 Im Gegensatz zu Trotha aber strebte er Verhandlungen mit den Gegnern an, wollte das Überlaufen begünstigen, anerkannte als militärischer Führer den Status der Kriegsgefangenschaft, auch wenn er Rücksichtnahmen für Duselei und realitätsfern hielt. Rassengegensätze waren für ihn keine erbbiologischen Unterschiede, sondern Interessengegensätze. Robert von Friedeburg, Konservatismus und Reichskolonialrecht,. Konservatives Weltbild und kolonialer Gedanke in England und Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 345-393, hier S. 369. Zurück

5 Um nur ein Beispiel zu zitieren: Brigadegeneral Jacob Smith hatte im Jahr 1899 amerikanische Truppen gegen widerständige Filipinos mit der Weisung auf den Weg geschickt: "Ich will keine Gefangenen. Je mehr Ihr tötet und niederbrennt, desto mehr macht Ihr mir eine Freude. Macht das Hinterland von Samar zu einer heulenden Wildnis." Zit. nach Bernd Greiner, Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2007, S. 29,Vgl. auch Robert Gerwarth/ Stephan Malinowski, Der Holocaust als "kolonialer Genozid"? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg", in: Geschichte und Gesellschaft, 33 (2007), 3, S. 439-466. Weitere Beispiele für eine ähnliche Kriegskonstellation und einer hohen Anzahl von zivilen Toten sind der kubanische Unabhängigkeitskrieg und das Regime des spanischen Generals und Gouverneurs Valeriano Weyler y Nicolau oder einzelnen Massaker an Native Americans im Rahmen der kriegerischen Konflikte bei der Landnahme der Weißen in Nordamerika Generell Dierk Walter, Warum Kolonialkrieg?, in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 14-43. Er schlägt als Definition vor: "Kolonialkrieg ist die in den Formen des kleinen oder asymmetrischen Krieges ausgeübte Gewalt an der kolonialen Peripherie". Das Ausschlaggebende wäre mithin der Kolonialismus als Herrschaftsform, nicht die Art der Kriegführung. Zurück

6 Jürgen Zimmerer, Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid in: ders., Joachim Zeller (Hg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-190) in Namibia und seine Folgen, S. 45-63,, hier S. 50; Hull, S. 49. Zurück

7 Hull zitiert von Trotha aus dem Jahre 1909, als dieser behauptete, er hätte Verhandlungen zugestimmt, hätten sich die Herero am Waterberg ergeben. Zurück

8 Brigitte Lau, Uncertain Certainties, in: Mibagus 1989, Nr. 2, S. 4-8. Hull spricht von lediglich zwei Verfolgungspatrouillen, auch Estorff , der eine der Patrouillen leitete, schilderte, wie sich einzelne Trupps an den Deutschen vorbeischlichen bzw. wie die aufkommende Regenzeit die Chancen der Herero auf das Gelingen ihrer Flucht vergrößerte. Ludwig von Estorff, Wanderungen und Kämpfe in Südwestafrika-Ostafrika und Südafrika 1894-1910, hrsg. von Christoph-Friedrich Kutscher, Wiesbaden o. J. (1968), S. 117. Zurück

9 Hull, S. 45. Zurück

10 Am 2. Oktober 1904 erließ General von Trotha folgende Proklamation an das Volk der Herero:
"Ich, der große General der Deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Herero sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder, der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält tausend Mark, wer Samuel Maharero bringt, erhält fünftausend Mark. Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück, oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers."
Ergänzt wurde die Proklamation durch den der eigenen Truppe zu verlesenden Zusatz:
"Dieser Erlaß ist bei den Appells den Truppen mitzuteilen mit dem Hinzufügen, daß auch der Truppe, die einen der Kapitäne fängt, die entsprechende Belohnung zu teil wird und daß das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen. Ich nehme mit Bestimmtheit an, daß dieser Erlaß dazu führen wird, keine männlichen Gefangenen mehr zu machen, aber nicht zu Grausamkeiten gegen Weiber und Kinder ausartet. Diese werden schon fortlaufen, wenn zweimal über sie hinweggeschossen wird. Die Truppe wird sich des guten Rufes der deutschen Soldaten bewußt bleiben." BA Berlin, RKA, R 10.01, 2089, Bl. 23, Handschriftliche Abschrift der Proklamation an das Volk der Herero und des Zusatzbefehls an die Kaiserliche Schutztruppe, 2.10.1904. Zurück

11 Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte. Theorien. Kontroversen, München 2006, S. 128-136. Zurück

12 Vgl. Dierk Walter, Symmetry and Asymmetry in Colonial Warfare ca. 1500-2000. The Uses of a Concept, IFS Info 3, 2005, Oslo 2005. Zurück

13 Wir wissen nicht, welchen Umfang die in Namibia verübten Gewaltexzesse hatten, genauere Todeszahlen der Herero sind Spekulation, die Schätzungen reichen von 50% bis 80%. Hull, Destruction, S. 88-90. Zurück

14 Die Annahme, mit dem Zurücktreiben der Frauen und Kinder in die Steppe habe von Trotha deren Tod durch verdursten und Entkräftung intendiert, erschließt sich nicht aus der Proklamation. Was mit den Frauen und Kindern geschehen soll, wird in diesem Schreiben ebenso wenig thematisiert wie das Schicksal derjenigen Männer, die das Land nicht "verlassen" wollten. Diese "Leerstellen", die für viele massenhafte Tötungsprozesse charakteristisch sind, verunmöglichen es, Völkermorde oder ähnliche Fälle entgrenzter Gewalt ausgerechnet über das labile Kriterium "Intentionen" festklopfen zu wollen. Zurück

15 Hull, S. 54. In diese Spannungsverhältnis von widerstreitenden Normen, nämlich dem Gebot der Erbarmungslosigkeit ("nehme keine Weiber mehr auf") und dem Verbot des Mordens an Frauen und Kindern ("keine Grausamkeit an Frauen und Kindern") steht auch die Trothasche Proklamation. Zurück

16 Jürgen Zimmerer, Rassenkrieg und Völkermord. Der Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika und die Globalgeschichte des Genozids, in: Henning Melber, (Hg.), Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M. 2005, S. 23-48, hier S. 48. Zurück

17 Zudem war die Grundkonstellation der koloniale Kontext. Die Proklamation von Trothas spiegelt diese koloniale Struktur, die Selbst- wie Fremdwahrnehmung als legitime Kolonialherrn und unbotmäßige Kolonisierte wider. Daher spielten auch die für viele Kolonialkriege zu beobachtende Impulse der Rache und des Bestrafens eine große Rolle. Schließlich: als klassischer kolonialer Pazifizierungsfeldzug ging es politisch immer noch um das Wiederherstellen von "Ruhe und Ordnung". Zurück

18 Die weitergehende Frage wäre dann, ob sich eine Korrespondenz zwischen zivil eingehegten metropolitanen Gesellschaften, in denen eine Stigmatisierung der Gewalt vorherrscht bzw. allmählich voranschreitet, und deren enthemmtem Ausleben an den Peripherien auf fremden Boden herstellen lässt. Vgl. Gerwarth/Malinowski, S. 450. Zurück

19 Erste Ansätze dazu bei Susanne Kuss, Kriegführung ohne hemmende Kulturschranke: Die deutschen Kolonialkriege in Südwestafrika (1904-1907) und Ostafrika (1905-1908), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 208-247. Im Krieg gegen die Hehe nahmen die Deutschen Frauen und Kinder gefangen, weil dies, wie sie festgestellt hatten, die Männer zur Aufgabe des Kampfes veranlasste. Gleichzeitig wurden jedoch systematisch Hungersnöte erzeugt, indem alle Nahrungsmittel vernichtet und die Felder verwüstet wurden. Hinter dieser Art einer "punktuellen Vernichtung im Krieg" (Thoralf Klein) stand aber weder die Ausrottung der Hehe - an sie wurde gleich nach Beendigung des Krieges Saatgut verteilt für die Wiederbestellung der Felder - noch hatte sich der Krieg von einem politischen Ziel, nämlich der Befriedung der Kolonie, vollständig abgelöst. Thomas Morlang, "Die Wahehe haben ihre Vernichtung gewollt." Der Krieg der "Kaiserlichen Schutztruppe" gegen die Hehe in Deutsch-Ostafrika (1890-1898), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 80-108. Zurück

20 Gerwarth/Malinowski, S. 447, verweisen in diesem Zusammenhang auf den Begriff des "colonial archive". Zurück

21 Wenngleich die Übertragungsfähigkeit auf den europäischen Schauplatz als eher begrenzt eingeschätzt wurde, so Cord Eberspächer, "Albion zal hier ditmaal zijn Moskou finden!" Der Burenkrieg (1899-1902), in Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S.182-207, hier S. 196-197. Zurück

22 Vgl. Thoralf Klein, Straffeldzug im Namen der Zivilisation. Der Boxerkrieg in China (1900-1901), in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 145-181; den diesen Aspekt eher vernachlässigenden Band: Mechthild Leutner/Klaus Mühlhahn (Hg.), Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, Berlin 2007. Zurück

23 "Hinsichtlich der Gewalt, die der Zivilbevölkerung in einem Krieg droht, der die Grenzen zur kämpfenden Truppe auflöst, wurden die Europäer im Ersten Weltkrieg eingeholt von ihrer eigenen Vergangenheit und zugleich von ihrer gegenwärtigen Praxis außerhalb Europas." Dieter Langewiesche, Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der Geschichte? In: Jörg Baberowski (Hg.), Modere Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 12-36, hier S. 29.
Hingegen interpretiert Hew Stachan, A General Typology of Transcultural Wars - The Modern Ages, in: Hans-Henning Kortüm, Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century, Berlin 2006, S. 85-1103, hier S. 94-97, die Barbarisierung der intrakulturellen Kriegführung in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als vor allem hausgemachtes europäisches Phänomen. Er sieht den Kollaps der Trennung in eine europäische und koloniale Kriegführung weniger darin begründet, dass die koloniale entgrenzte Kriegführung nach Europa transportiert worden sei, sondern dass nichteuropäische Truppen auf dem Kontinent verwandt worden seien. Die Kolonien seien zwar in den 20er und 30er Jahren als Laboratorien etwa für die Wirkung von Bombardements benutzt worden, aber die Europäer hätten z.B. 1915 mit dem Einsatz von Gaswaffen ihre Neigung bewiesen, gerade untereinander rücksichtslos zu kämpfen. Auch eher skeptisch: Michael Hochgeschwender, Kolonialkriege als Experimentierstätten des Vernichtungskrieges?, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2007, S. 269-290. Morlang, Wahehe, S. 93-94, erinnert daran, dass schon die Franzosen während der Napoleonischen Kriege in Spanien bei einem Gegner, der sich nicht zum Kampf stellte, das Niederbrennen von Höfen und Ortschaften, die Verwüstung der Felder, Vernichtung des Viehs praktiziert hatten. Zurück

24 Im deutschen Militär scheint die zeitnahe Auswertung des Herero-Krieges begrenzt gewesen zu sein. Anerkannt wurde lediglich die Notwendigkeit, Infanterie und Kavallerie mit Maschinengewehren auszurüsten. Erwogen, aber nicht realisiert wurde die Aufstellung einer ständigen Eingreiftruppe für überseeische Einsätze. Grundkurs deutsche Militärgeschichte, Band 1: Die Zeit bis 1914. Vom Kriegshaufen zum Massenheer, München 2006, S. 476-478. Paul von Lettow-Vorbeck hingegen adaptierte das Modell der Guerilla, das er auf diversen kolonialen Schauplätzen kennen gelernt hatte, und wandte es als Kommandeur der deutschen Truppen in Ostafrika bis zum Waffenstillstand 1918 an - mit desaströsem Ausgang für seine einheimischen Truppen. Vgl. die allerdings unbefriedigende Biographie von Uwe Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck - Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2006. Zurück

25 Gerwarth/Malinowski, S. 450; Pascal Grosse, What does German Colonialism have to do with National Socialism. A Conceptual Framework, in: Eric Ames, Marcia Klotz, Lora Wildenthal (Hg.), Germany's Colonial Pasts, Lincoln/London 2005, S. 115-134; Hochgeschwender, Kolonialkriege, S. 271. Zurück

26 Vgl. Manfred Messerschmidt, Ideologie und Befehlsgehorsam im Vernichtungskrieg, in: ders. Militarismus, Vernichtungskrieg, Geschichtspolitik. Zur deutschen Militär- und Rechtsgeschichte, Paderborn u.a. 2006, S. 221-244, hier S. 230-231. Zurück

27 Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland, 19.05.1941. Zit. nach ebd., S. 230. Pars pro toto: Befehl des Generalfeldmarschall von Reichenau vom 10.10. 1941:
"Betr.: Verhalten der Truppe im Ostraum
Hinsichtlich des Verhaltens der Truppe gegenüber dem bolschewistischen System bestehen vielfach noch unklare Vorstellungen. Das wesentliche Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis. Hierdurch entstehen auch für die Truppe Aufgaben, die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen. Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee... Deshalb muss der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben. Sie hat den weiteren Zweck, Erhebungen im Rücken der Wehrmacht, die erfahrungsgemäß stets von Juden angezettelt werden, im Keime zu ersticken. Der Kampf gegen den Feind hinter der Front wird noch nicht ernst genug genommen. Immer noch werden heimtückische, grausame Partisanen und entartete Weiber zu Kriegsgefangenen gemacht...
Fern von allen politischen Erwägungen der Zukunft hat der Soldat zweierlei zu erfüllen:
1. die völlige Vernichtung der bolschewistischen Irrlehre, des Sowjetstaates und seiner Wehrmacht,
2. die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke und Grausamkeit und damit die Sicherung des Lebens der deutschen Wehrmacht in Russland.
Nur so werden wir unserer geschichtlichen Aufgabe gerecht, das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien." Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. "Unternehmen Barbarossa" 1941. Hrsg. v. Gerd R. Ueberschär u. Wolfram Wette. Frankfurt a. M. 1991, S.285-286. Zurück

28 Vgl. auch Richard Bessel, Nazism and War, London 2004. Zurück

29 Vgl. auch Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 153-155. Zurück

30 Konrad Jarausch/Michael Geyer, Zerbrochener Spiegel. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, München 2005, S. 155. Zurück

31 Einen knappen, aber konzisen Überblick über die Forschung gibt Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Darmstadt 2003. Zurück

32 Mit anderen Worten: Auch für die Frage, wie es zur "Endlösung der Judenfrage" kommen konnte, gilt die Intention Hitlers als mittlerweile nachrangig. Das war nicht immer so, denkt man an den Streit zwischen "Funktionalisten" und "Intentionalisten". Aber heute scheint die Suche nach einem "Führerbefehl" der Einsicht gewichen zu sein, dass es eine derartig eindeutige und zudem verschriftlichte Willensbekundung nie gegeben und man sich ein falsches Bild vom Ablauf des Holocaust gemacht hat.
Ab Herbst 1941 wurde das direkte Erschießen von Frauen und Kindern nicht nur nicht mehr untersagt wie 1904, sondern zum Gebot für die SS-Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Nicht mehr die Vertreibung über die deutsche Grenze mit der möglichen, aber nicht sicheren Konsequenz eines Massensterbens, sondern die Sammlung, Konzentration und Ermordung aller Juden wurde zur Handlungsmaxime. Deshalb starb vermutlich die Mehrzahl der ermordeten Juden in face to face killings.
Zurück

 

Übersicht zur Debatte: iz3w-Vorwort Zum Text

Philip Geck und Anton Rühling: Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text

Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text

Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid. Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript) Zum Text

Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede. Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript) Zum Text

Podiumsdiskussion (Transkription) Zum Text

Seminar (Transkription) Zum Text

Heiko Wegmann: Kokospalme mit Hakenkreuz - Die Kolonialbewegung in Freiburg während des Nationalsozialismus (pdf, aus iz3w 313) Zum Text

nach oben home