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Debatte um (Dis-)Kontinuitäten von Kolonialismus und Nationalsozialismus (2008)

(siehe auch iz3w-Vorwort Zum Text)

 

 

Gegenläufige Erinnerungen - Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus

von Jörg Später

Kontinuitätsdebatten um den Nationalsozialismus führten bereits die ZeitgenossInnen. In Großbritannien und den USA fragte man sich, was der Grund dafür sei, dass die Deutschen fortwährend ihre Nachbarn überfielen und wieso eine zivilisierte Nation sowohl einen Goethe als auch einen Hitler hervorbringen konnte. Man suchte nach geistigen Traditionen, nach Vorläufern und konstruierte Ahnenreihen, die bis Nietzsche, Luther oder sogar Hermann dem Cherusker zurückreichten.

Die Frage "wie konnte es zu 1933 kommen?" beschäftigte auch deutsche Historiker unmittelbar nach 1945, meistens, um bestimmte deutsche Traditionen von der Anklage des "Auslands" freizusprechen. In den 1960er Jahren formulierte dann Fritz Fischer die These vom ersten deutschen Griff nach der Weltmacht während des Kaiserreiches - dem, so die Logik des Arguments, im Dritten Reich der zweite folgen sollte. Die Bielefelder Sozialhistoriker um Hans-Ulrich Wehler begaben sich um 1970 auf der Suche nach dem deutschen Sonderweg zu 1933 ins 19. Jahrhundert - um nicht wieder zurückzukehren, mit Ausnahme des Mentors, der jedoch dann den wenig sozialhistorischen Interpretationsansatz des ‚Charisma des Führers' zur Erklärung des Nationalsozialismus bemühte.

Unter heutigen ZeithistorikerInnen besteht so etwas wie ein Konsens darüber, dass der Erste Weltkrieg, also eine vorwiegend europäische Angelegenheit, die "Urkatastrophe" des "Jahrhunderts der Extreme" gewesen sei, mithin auch der Wegbereiter des Nationalsozialismus. Die Tat der Judenvernichtung wird dabei oft als "Zivilisationsbruch" (Dan Diner) behandelt, also als etwas Singuläres, eine Zäsur, die den Fluss der Geschichte unterbricht. Mit dem Begriff ist gemeint, dass der bürokratisch organisierte und zum Teil industriell durchgeführte Massenmord die Widerlegung einer Zivilisation bedeute, deren Denken und Handeln einer Rationalität folge, die ein Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetze. Die Annahme, dass der Mord an den Jüdinnen und Juden einer Gegen-Rationalität oder einer "Terrorratio" (Jan Philipp Reemtsma) gefolgt sei, ist Ausdruck der Opferperspektive. Diese fragt nämlich in der Regel nicht: "Wie ist es eigentlich gewesen?" oder "Wie war es eigentlich möglich?", sondern: "Warum ausgerechnet wir?" Sie findet die Antwort im Antisemitismus und konstatiert eine historische Krise. Nur in der Psyche der Opfer lässt sich die Gegenrationalität der Täter eruieren. Dan Diner hat dies anhand des Beispiels der Judenräte verdeutlicht: Diese spekulierten darauf, dass die Handlungen der Nazis auf Nützlichkeitserwägungen, etwa die Ausbeutung von Arbeitskraft, beruhen würden. Deshalb kooperierten sie - und führten die Juden ihrer Ermordung entgegen.

Wo kam das her?

Stimmen, die im deutschen Kolonialismus die Wurzeln des Nationalsozialismus bestimmten, waren dagegen rar, obwohl Hannah Arendt neben dem Antisemitismus den Imperialismus und die in Afrika "erprobten" Konzepte von Rasse und Bürokratie als einen "Ursprung totaler Herrschaft" ausmachte. Arendts Klassiker von 1951 wurde erst rund 15 Jahre später wieder aufgegriffen, als einerseits der DDR-Historiker Horst Drechsler und andererseits der westdeutsche Afrika-Historiker Helmut Bley den Massenmord an den Herero und Nama untersuchten. Vor allem Letzterer drehte die Frage um: Nicht mehr "Wo kommt das her?", sondern "Wo führt koloniale Gewalt hin?" war nun erkenntnisleitend. Bley war die Wechselwirkung zwischen kolonialer Erfahrung, zeitgenössischen politischen und sozialen Ordnungsvorstellungen sowie der Anwendung und Weiterentwicklung moderner Herrschaftstechniken und ihrer Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen wichtig: "Afrikaner und Deutsche sind in diesem erbitterten Konflikten verändert worden."

Die Neue Linke nach 1968 nahm diese Perspektive im Bemühen auf, den Kapitalismus als materiale Grundlage sowohl von Kolonialismus/ Imperialismus einerseits als auch von Faschismus andererseits zu bestimmen. Zum Beispiel untersuchte Peter Schmitt-Egner, der sich in einem studentischen Diskussionszusammenhang mit Dan Diner, Kanan Makiya und Tariq Ali bewegte, den Zusammenhang von Kolonialismus und Faschismus: "Die historische Kontinuität und strukturelle Affinität von Kolonialismus und Faschismus wird implizit und explizit im welthistorischen Zusammenhang des Imperialismus im Allgemeinen und des deutschen Kolonialismus im Besonderen dargestellt." Das Argument der antikolonialen Kritiker der 1960er Jahre wie Frantz Fanon, Albert Memmi und Aimé Césaire, der Kolonialismus sei die konstitutive Außenseite des Kapitalismus und der Faschismus ein nach innen gekehrter Imperialismus, wurde hier wirkungsmächtig. Faschismus, Kolonialismus und Imperialismus wurden hier als ein kausaler Zusammenhang begriffen und allesamt auf den Kapitalismus zurückgeführt.

Mitte der 1980er Jahre wurde die eher theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus durch die empirische Erforschung von TäterInnen, Taten und Tatorten der Judenvernichtung abgelöst. Die koloniale Erfahrung spielte dabei keine Rolle. Generell herrschte in Deutschland hinsichtlich des eigenen, als kurz empfundenen und zeitlich weit entfernten kolonialen Engagements die Devise: "Wir nicht, die anderen auch" (so Andreas Eckert). Gerade wegen Auschwitz wollte man an kolonialen Gewaltexzessen nicht auch noch schuld sein. Erst seit einigen Jahren ist über den Umweg der Postcolonial Studies die "situation coloniale" als mögliches Laboratorium von entgrenzter Gewalt, ideologischen Raum- und Rassekonstruktionen und imperialen Herrschaftsstrategien wiederentdeckt worden. Eine wichtige Rolle dafür spielten auch der Aufstieg transnationaler Geschichtsschreibung und vergleichender Genozidforschung, die Enthistorisierung des Holocaust als einer moralischen Ikone von Gut und Böse, der verstärkt geführte Menschenrechtsdiskurs und die Identitätspolitik von Opfern historischen Unrechts.

Diese Verweise auf die koloniale Situation sind allerdings von den NS-HistorikerInnen bislang nicht aufgegriffen worden, was bei denjenigen HistorikerInnen, die sich mit Kolonialkriegen beschäftigen, auf Unverständnis stößt. Hier treffen offensichtlich unterschiedliche Wissenserfahrungen und -traditionen aufeineinander, oder um es mit Dan Diner zu sagen: "gegenläufige Gedächtnisse".1

Befreiung oder Unterdrückung?


Die gegenläufigen Erinnerungen erklären nicht nur die Konkurrenz zwischen Kolonial- und NS-HistorikerInnen und den jeweiligen Opferperspektiven, sondern sind auch Subtext in vielen politischen Debatten, etwa über Israel, Islam oder Multikulturalismus. Ein Blick zurück auf die unmittelbare Nachkriegszeit zeigt, wie sich solche Diskurse herausbildeten. Nehmen wir den 8. Mai 1945: Dieser Tag ist in das westliche Gedächtnis als Tag der Befreiung eingegangen, als Überwindung von Nationalsozialismus, Krieg und dessen, für was "Auschwitz" steht: extreme Gewalt, Rassismus, Antisemitismus. An jenem Tag demonstrierten in den algerischen Städten Sétif und Constantine Hunderttausende für ein unabhängiges, freies Algerien. Die Franzosen, die gerade noch algerische Soldaten für einen freiheitlich-demokratischen Krieg gegen Nazideutschland engagiert hatten, schlugen die Demonstration nieder und töteten Zehntausende. In einer antikolonialen Perspektive kann dieser 8. Mai also als Tag der erneuten Unterdrückung erscheinen.

Gerade unter arabischen Intellektuellen ist das Bewusstsein über dieses Auseinanderklaffen zwischen dem westlichen (und jüdischen) 8. Mai und dem antikolonialen 8. Mai im Laufe der Jahrzehnte wirkungsmächtig geworden. Verstärkt wurde das Auseinandertreten der Opfer nationalsozialistischer und kolonialer Gewalt durch die konkurrierenden Interpretationen des Mords an den Jüdinnen und Juden. Drei Jahre nach Kriegsende fielen symbolisch zwei Ereignisse fast nahezu zusammen, die diese Kluft vertiefte und verdeutlichte: die Gründung des Staates Israel auf der einen Seite und die Erklärung der Menschenrechte in Verbund mit der UN-Genozidkonvention auf der anderen Seite. Die mit Gewalt verbundene Errichtung eines jüdischen Staates im mehrheitlich arabischen Palästina, die als kolonialistischer Akt gedeutet wurde, trug die Botschaft in sich: Nie wieder soll Juden das geschehen, was ihnen geschah - zumindest nicht ohne Gegenwehr. Die Antwort auf Auschwitz war eine partikularistische: Die Welt hat sich nicht verändert, aber wir Juden sind nun wehrhaft. Die "Kolonisierten" aber sahen sich fortan als "Opfer der Opfer".

Die Erklärung der Menschenrechte und die Genozidkonvention waren dagegen eine universalistische Antwort auf "Auschwitz": Nie wieder soll "dem Menschen" das geschehen, nie wieder darf eine religiöse, rassische oder kulturelle Gruppe vernichtet werden. Dass
ein Jude und Überlebender des Holocaust, Raphael Lemkin, den Genozidbegriff prägte und mit der "rassischen Gruppe" die Juden gemeint waren (ohne diese Abstraktion wäre

die Konvention nicht durchsetzbar gewesen, genauso wenig, wenn politischer Genozid oder Klassengenozid aufgenommen worden wären), änderte nichts daran, dass die "jüdische Erfahrung" verallgemeinert worden ist. "Auschwitz" gehörte nicht mehr nur den Juden (oder den Deutschen), sondern allen Unterdrückten, Ermordeten und "Verdammten dieser Erde" (Fanon).

Der ideologische Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus im Kalten Krieg hielt die "gegenläufigen Erinnerungen" in einer Latenzphase, wenngleich sie immer wieder durchbrachen, etwa als 1974 der Zionismus vor der UNO-Vollversammlung als Rassismus verurteilt und Israel damit auf die "Naziseite" gerückt wurde, was natürlich für Juden eine Ungeheuerlichkeit war. Der Clash der Perspektiven dauerte an, befeuerte das antisemitische Unbewusste der antizionistischen Neuen Linken der 1970er Jahre und fand in den 1980er und den 1990er Jahren Eingang in akademische Interpretationen der historischen Gewalterfahrungen - im Begriff des "Zivilisationsbruches" einerseits und der postkolonialen Kritik andererseits.

Symbol für das Böse

Der Genozidbegriff, der nun Stein des Anstoßes in der Debatte um eine Kontinuität zwischen deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus ist, kam durch eine weitere Entwicklung der 1990er Jahre wieder ins Spiel (nachdem er während des Kalten Krieges keine Rolle spielte): der Sakralisierung des Holocaust. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde in der Geschichtswissenschaft einerseits endlich der Mord an den Jüdinnen und Juden als das entscheidende Ereignis des Zweiten Weltkrieges entdeckt und erforscht. Vorher galt er als Kriegstragödie unter anderen oder ging in Faschismus- und Totalitarismusdebatten unter. Andererseits erging man sich in verallgemeinernden Rückschauen wie "Jahrhundert der Extreme", "Jahrhundert der Gewalt" oder "Jahrhundert der Lager". Einerseits wurden endlich Taten, Täter und Tatorte des Mordes an den europäischen Juden erforscht, andererseits wurde der Holocaust zu einer Erinnerungsikone, zum Symbol für das Böse schlechthin, auf den sich verschiedenste Opfergruppen bezogen - entweder vereinnahmend, etwa im Sinne von "Black Holocaust", oder relativierend oder gar leugnend, um das Monopol der Juden auf die Opferrolle im "größten Menschheitsverbrechen aller Zeiten" zu brechen.

Immer spielte der Genozidbegriff dabei eine Rolle. In jedem Fall wurde er aus seinem Kontext - Zweiter Weltkrieg, deutsche Besatzungspolitik und "völkische Flurbereinigung" in Osteuropa - herausgelöst und damit enthistorisiert. Zugleich wurde er entweder verallgemeinert und vermenschlicht oder aber, als Gegenbewegung, mystisch überhöht und mit den Geboten versehen: "Remember!" und "Du sollst nicht vergleichen!" So oder so ist die Beschäftigung mit dem Mord an Jüdinnen und Juden zu einer rein moralischen und politischen Angelegenheit geworden. Jedes große Massaker, jede "ethnische Säuberung", jeder staatliche Massenmord wird zwangsläufig mit dem Holocaust in Relation gesetzt.

Die Globalisierung von Erinnerungskultur und der Aufstieg von Menschenrechtspolitik trugen das Übrige dazu bei, dass monetäre Opferkonkurrenz und makabre Opferranglisten, Identitätspolitik und Anerkennungspolitik die vergangenheitspolitischen Debatten bestimmen. Wahrscheinlich geht das kaum anders, vor allem wenn es um historische Schuld, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung geht. Nur kennen sollte man den doppelten Boden solcher scheinbar rein wissenschaftlichen Debatten. Die große Debatte um Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ist wohl eher politisch motiviert und wird in dem Moment auf ein unaufgeregtes Normalmaß gestutzt werden, wenn der in Deutsch-Südwestafrika geschehene "erste deutsche Genozid" endlich politisch anerkannt worden ist.

Jörg Später ist Historiker, freier Autor und ehemaliger Mitarbeiter des iz3w.

Anmerkungen:

1 Siehe dazu Diners gleichlautenden Essay (Göttingen 2007), dem der Grundgedanke der folgenden Ausführungen entnommen ist. Zurück

Übersicht zur Debatte: iz3w-Vorwort Zum Text

Philip Geck und Anton Rühling: Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text

Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text

Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid. Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript) Zum Text

Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede. Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript) Zum Text

Podiumsdiskussion (Transkription) Zum Text

Seminar (Transkription) Zum Text

Heiko Wegmann: Kokospalme mit Hakenkreuz - Die Kolonialbewegung in Freiburg während des Nationalsozialismus (pdf, aus iz3w 313) Zum Text

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