logo

Künstliche Grenze, natürliches Afrika?

Um die Berliner Kongokonferenz von 1884-1885 ranken sich allerhand Mythen

von Helmut Bley *

Personen Lokalpresse

Dieser Text ist zuerst erschienen in: iz3w Nr. 282 (Januar/Februar 2005), S. 14ff.

cover iz3w

 

* Helmut Bley ist emeritierter Professor für Neuere und Afrikanische Geschichte und lebt in Hannover.

Das Jahr 2004 wies gleich zwei wichtige Anlässe auf, sich kritisch mit dem Deutschen Kolonialismus zu befassen. Zum einen jährte sich zum hundertsten Mal der Beginn des Kolonialkrieges gegen die Herero und Nama im heutigen Namibia (siehe iz3w 275). Zum anderen begann vor 120 Jahren, am 15. November 1884, die so genannte Kongokonferenz in Berlin. Die Kongokonferenz – die insbesondere im englischsprachigen Raum auch oft Berliner Afrikakonferenz genannt wird – war zweifellos eine wichtige Etappe bei der Konsolidierung des Kolonialismus in Afrika. Auf Einladung von Reichskanzler Bismarck kamen hochrangige Vertreter von 14 Kolonialmächten zusammen, um bis zum 26. Februar 1885 das gemeinsame Vorgehen in Afrika abzustimmen. Mit dabei waren neben dem deutschen Kaiserreich auch Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Russland, Spanien, Schweden- Norwegen sowie als außereuropäische Mächte das Osmanische Reich und die USA.

Im Mittelpunkt der antikolonialen Kritik an der Konferenz steht häufig die künstliche Grenzziehung zwischen den Kolonien, die dort mit dem Lineal am grünen Tisch vorgenommen worden sei und die bis heute negative Folgen zeitige. Unser Autor Helmut Bley hält dem entgegen, dass diese Annahme auf Mythen basiere. Er plädiert dafür, die negativen Auswirkungen des Kolonialismus in Afrika weniger in der Grenzziehung als vielmehr in den Unterentwicklungsprozessen zu verorten. Die Redaktion

Künstliche Grenze, natürliches Afrika?

Um die Berliner Kongokonferenz von 1884-1885 ranken sich allerhand Mythen

Wohl kein diplomatisches Ereignis ist so zum Symbol der Aufteilung Afrikas geworden wie die Berliner Kongokonferenz von 1884/85. Mit ihr verbindet sich die weit verbreitete Vorstellung, dass hier von den europäischen Kolonialmächten die Grenzen der Kolonien in Afrika festgelegt wurden und damit der Kolonialismus in Afrika seinen eigentlichen Anfang nahm. Afrikanische Intellektuelle nahmen häufig die Afrika-Konferenz zum Anlass, um auf den Skandal der Fremdherrschaft und des kolonialen Gewaltverhältnisses hinzuweisen. Aus ihrer Sicht war die in Berlin vorgenommene Aufteilung Afrikas eine konzertierte Aktion der europäischen Großmächte, deren Folgen bis in die krisenhafte Gegenwart hineinreichten und auf die (pan-)afrikanische Antworten erforderlich seien.

Die europäische Diskussion der Kongokonferenz konzentriert sich oft auf den Aspekt, dass die Grenzen in Afrika künstlich gezogen und somit ‚Völker’, ‚Stämme’ und ‚Ethnien’ zerrissen worden seien. Aus dieser Zerrissenheit wird ebenfalls ein Großteil der Krisenphänomene und der Instabilität des postkolonialen Afrikas abgeleitet. Dahinter steht das Klischee eines in stabilen Ethnien oder gar kleinen ‚Stämmen’ organisierten vorkolonialen Afrikas. Im Grunde besagt diese Interpretation, dass die afrikanischen Gesellschaften noch immer den vorkolonialen gesellschaftlichen Organisationsformen verhaftet seien und achtzig Jahre kolonial geprägte sowie vierzig Jahre postkoloniale Staatlichkeit daran im Wesentlichen nichts geändert hätten. Es ist das Bild vom geschichtslosen Afrika, das selbst durch die massive Intervention des Kolonialismus und der Weltmarktzwänge im Grunde unverändert und nur durch die Grenzen zerrissen sei.

Beide Annahmen sind Mythen, die im Folgenden dekonstruiert werden sollen. Aber wie immer bei Mythenbildung finden sich auch Anknüpfungspunkte.

Die Aufteilung Afrikas...

Als auf der Berliner Kongo-Konferenz die europäischen Großmächte Afrika-Fragen verhandelten, war die koloniale Besetzung Afrikas längst im Gange: seit der portugiesischen Präsenz in Mocambique und Angola ab dem 16. Jahrhundert; seit der Besetzung der Kaphalbinsel in Südafrika ab 1652 durch die Holländer; seit der französischen Besetzung Ägyptens unter Napoleon ab 1800; seit der französischen Eroberung von Algerien ab 1830 und den anschließenden militärischen Kampagnen im Senegal; oder seit Großbritanniens Annexion von Lagos in Nigeria im Jahr 1861.

Auch das Zeitalter des Imperialismus mit seinen neuen Formen des Kolonialismus hatte bereits begonnen. Großbritannien hatte in den 1870er Jahren das Zulu-Königreich im südlichen Afrika, das Königreich der Asante in Ghana und das Königreich Benin besiegt sowie Sansibar unter Kontrolle gebracht. Ähnlich operierten die Franzosen in Westafrika und im Sahelgebiet, und auch der portugiesische Kolonialismus passte sich in diesen Jahren den veränderten Weltmarktbedingungen an. Sogar Deutschland hatte seine Kolonialerwerbungen in Togo oder Kamerun mit Flaggenhissungen dokumentiert – wenn auch nur kurz vor der Konferenz.

Was war also das eigentliche politische Ziel der von Bismarck initiierten Kongokonferenz? Sie hatte mehrere Stoßrichtungen und entsprechende Ergebnisse. Die Hauptmotivation bestand darin, die rasante Okkupation afrikanischer Regionen durch Frankreich und Großbritannien abzubremsen und die Ansprüche anderer europäischer Mächte zur Geltung zu bringen. So erfolgte allein durch die Annahme der Konferenzeinladung nach Berlin die Anerkennung der deutschen Kolonialerwerbungen. Zugleich versuchte sich Reichskanzler Bismarck im spannungsreichen Verhältnis des deutschen Kaiserreiches zu Frankreich und England als Vermittler einzuschalten. Er wollte den französischen Revanchegedanken aufgrund des verlorenen Krieges von 1870/71 abschwächen und Großbritannien zur Anerkennung der deutschen Überseepräsenz zwingen.

Der Umsetzung dieser Ziele diente insbesondere das konkrete Vorhaben, zumindest das riesige Zentrum Afrikas – das Kongobecken – nicht aufzuteilen, sondern als eine Art Freihandelszone zu sichern. Sie sollte ohne koloniale Schutzzölle und andere Begünstigungen für die Firmen der jeweiligen Kolonialmacht auskommen. An dieser Lösung waren insbesondere die USA interessiert. Sie brachten auf dieser Konferenz erstmals eigene Afrika-Interessen zur Geltung – im Sinne einer freihändlerischen »open door policy«, wie sie die USA wenige Jahre später auch für China formulieren sollten.

Bismarck hatte sich im Vorfeld der Konferenz dafür entschieden, dieses Ziel zu verwirklichen, indem er den riesigen Kongo-Raum der privaten Kongo-Gesellschaft des belgischen Königs Leopold II überlassen wollte, um so ein nicht-staatliches Regime an Stelle einer der Westmächte zu setzen. Er erkannte im Alleingang Leopolds Erwerbungen an. Diese Lösung scheiterte jedoch im Laufe der Jahre vollständig, weil der belgische König die bei der Berliner Kongokonferenz ausgehandelte Kongoakte nicht beachtete. Darin war der Kongofreistaat zwar zum Privatbesitz erklärt, aber auch Handelsfreiheit für die 14 Unterzeichnerstaaten der Berliner Konferenz festgehalten worden. Leopold II setzte jedoch sukzessive eine Kolonie durch, die mit der Ermordung von Millionen Afrikanern derartig skandalöse Herrschaftsformen annahm, dass der belgische Staat 1908 den König enteignete.

Allerdings hatte hinter Leopolds Initiative ein geschicktes gesamteuropäisches Afrika-Management gestanden. Er hatte sein Projekt unter die Vorzeichen der gesamteuropäischen wissenschaftlichen Erkundung des Kontinents, der Zivilisationsmission und der Beendigung des Sklavenhandels gestellt. Alle berühmten zeitgenössischen europäischen Erforscher des »finsteren« inneren Afrikas hatte er schon 1876 zu einer internationalen Konferenz in Brüssel zusammengerufen. Diese Konferenz kann durchaus als eigentlicher symbolhafter Auftakt für ein gesamteuropäisches Kolonialprojekt in Afrika gelten.

... hatte längst begonnen

Dem Mythos von der Aufteilung Afrikas am nächsten kam das auf der Kongokonferenz verabschiedete Regelwerk, wie die Okkupation in Afrika international abgesichert werden könne, damit Konflikte beim Wettlauf um die Kolonien nicht zu einem Krieg zwischen den europäischen Mächten führten. Die Hauptregel – das Prinzip der Effektivität – besagte, dass es fortan nicht mehr genügen sollte, lediglich an der Küste einige Flaggen zu hissen, sondern dass auch im Hinterland der Kolonie Elemente einer effektiven Okkupation errichtet sein müssten, wie etwa Militär- oder Polizeistationen. Damit waren jene Regularien festgelegt, an denen sich die Grenzverträge zwischen den europäischen Mächten in den 1890er Jahren orientierten, so z.B. zwischen Deutschland und Portugal an der Nordgrenze Namibias und an der Südgrenze Ostafrikas/Tanganjikas sowie mit Großbritannien im Helgoland-Sansibar-Vertrag.

Doch die friedliche Aufteilung Afrikas unter den europäischen Kolonialmächten lässt sich nicht allein der Kongokonferenz zuschreiben. Denn es gab vorher wie nachher viele andere Gelegenheiten dazu. So wurde beispielsweise der britisch-französische Konflikt um die Kontrolle Ägyptens aus Anlass der britischen Okkupation 1882 durch die britische Anerkennung von französischen Interessen im Maghreb entschärft. Dies verhinderte aber nicht, dass Frankreich und Großbritannien im Wettlauf um den Sudan bei Faschoda 1898 an den Rand eines Krieges gerieten, der nur im Blick auf die gemeinsamen Interessen gegenüber der deutschen Weltpolitik vermieden wurde. Und als Frankreich die Freihandelsregelungen in Marokko unterlief und zunächst 1905 und dann wieder 1911 zur faktischen Okkupation schritt, wurde ernsthaft vom deutschen Generalstab und vom Staatssekretär des Äußeren überlegt, diesen Konflikt für einen Krieg um die Hegemonie in Europa zu nutzen. Nur die diplomatische Isolation Deutschlands auf der Konferenz von Algeciras 1906 und die 1911 erfolgte Androhung Großbritanniens, in einem deutsch-französischen Krieg Partei gegen Deutschland zu ergreifen, führte zu Kompensationsverhandlungen, in denen Deutschland ein kleines Stückchen

Kamerun hinzubekam. Der Krieg Großbritanniens gegen die Buren-Republiken in Südafrika von 1899-1902 beendete alle deutschen Träume, über Bahnbauten von Moçambique aus zum Witwatersrand und seinen Goldbergwerken vorzustoßen. Die USA wiederum führten am Ende des 19. Jahrhunderts Kolonialkriege gegen Spanien.

Die europäische Verabredung, Interessenkonflikte in Afrika untereinander nicht gewaltsam auszutragen, wie das Jahrhunderte vorher in der Karibik im Kampf um die Forts der Sklavenhändler üblich war, blieb also trotz der Kongokonferenz brüchig, wenn sie auch bis zum Ersten Weltkrieg im Großen und Ganzen hielt.

Grenze und Staatsbildung

Die Folgen der Grenzziehung in Afrika – die im wesentlichen nach 1890 durch bilaterale Verträge zwischen den europäischen Kolonialmächten festgelegt wurde – lässt sich nicht ohne einige Vorüberlegungen zu dem dahinter liegenden Konzept diskutieren, dass künstliche Grenzen eine zentrale Ursache von Instabilität seien. Wenn man diesem Argument folgt und es auf Europa anwendet, das unzweifelhaft ein Konglomerat aus künstlichen Grenzen darstellt und das bis Ende des 20. Jahrhunderts in vielen Kriegen Grenzverschiebungen praktiziert hat, müsste diese Region die instabilste und sozial-ökonomisch stagnierendste der Welt sein.

Bereits in der feudalen Ära dynastischer Heiratspolitik standen in Europa keine ethnischen Kriterien für die Grenzziehung bereit, sondern es wurden politisch, religiös und/ oder dynastisch geprägte Landschaften in einen Herrschaftsbereich aufgenommen oder abgegeben. Führende Historiker und Theoretiker, die sich mit der Entstehung des europäischen Nationalstaates seit der Frühen Neuzeit beschäftigen, sehen einen engen Zusammenhang zwischen Staatsbildung, Konsolidierung, Territorialität und Krieg. Sie betonen die Bedeutung des Krieges sowohl für die Frage der Territorialität des Flächenstaates gegenüber der Vielzahl sich überlagernder Herrschaftsansprüche in quasi autonomen kleinen Gebieten mit klaren Grenzen, als auch für die Entwicklung der staatlichen Institutionen im Innern (Bürokratie, stehende Heere, kriegsbezogene Manufakturen und Steuersysteme).

Dabei sind wiederholt neue politisch-soziale Identitäten entstanden, politische Einheiten untergegangen und durch politische Homogenisierung ‚Ethnien’, ‚Völker’ oder Nationen marginalisiert worden. Aus Alemannen beispielsweise wurden Schweizer und Badener. Die Schlesier lebten während der letzten zweihundert Jahre in der polnischen Adelsrepublik, in der österreichischen Vielvölkermonarchie, in Preußen, Polen und im deutschen Kaiserreich sowie als Vertriebene in der Bundesrepublik – und erlebten somit weitaus mehr staatlichen Wandel als die allermeisten afrikanischen Gesellschaften. Nationalstaatliche Grenzen sind zu einem also dynamisch, zum anderen immer künstlich (im Sinne von nicht naturgegeben).

Grenzen sind nicht zu denken ohne zumindest den Entwurf oder die Funktion eines Territorialstaates, der ausreichend starke Institutionen hat, um innerhalb seiner Grenzen das Gewaltmonopol auszuüben und Finanzhoheit und Interventionsmacht zu besitzen. Grenzen sind an politische Autorität gebunden, die sie ausfüllen können. Insofern sind sie so wichtig wie die Autorität selbst und damit historisch an die Entwicklung dieser Autorität gebunden.

Die Autorität muss Interessen haben und überregional ausgerichtete Macht organisieren können. Ferner muss sie das politische Machtzentrum mit den Zentren wichtiger materieller Ressourcen und mit den spirituellen, religiösen Einrichtungen verbinden. Je agrarischer und auf Rohstoffe zentrierter ein solches staatliches Gebilde ist, desto wahrscheinlicher ist die Peripherisierung auch großer Gebiete. Dies kann so weit gehen, dass das staatliche Gebilde auf ein Netz von Enklaven beschränkt bleibt.

Der koloniale Staat in Afrika war im Großen und Ganzen ein derartiges Gebilde. Er war insofern stabil, als seine Grenzen von Großmächten garantiert waren. Selbst Besitzwechsel änderten an dieser Struktur wenig, wie die Kapkolonie zeigt, die zwischen 1799 und 1806 dreimal den Besitzer wechselte. Am Weltsystem des späten 19. und des 20. Jahrhunderts konnten unter völkerrechtlichen, handels- und währungspolitischen Aspekten nur noch Staaten – ob abhängig oder nicht – teilhaben. Im Binnenverhältnis von Metropolland und Kolonie waren letztere eher Staaten minderen Rechts als ‘besondere Provinzen’.

Das Besondere am kolonialen Status in Afrika war, dass zwischen 1888 und 1950, also 65 Jahre lang, in der Kolonie kein interner – auch kein mit militärischen Mitteln geführter – Kampf möglich war, weder um das Machtzentrum noch um Sezession. Er ist von der afrikanischen Opposition seinerzeit auch kaum gedacht worden. Kennzeichen des kolonialen Staates war die Zementierung des politischen Status quo und seine Reduzierung auf meist regionale Subsysteme mit stark traditionaler und lokaler Dimension. Diese Arretierung des Status quo bei Staatsbildungsprozessen ist ein welthistorisches Unikum, das so nur in den Kolonien existierte. Es besteht also eine Ungleichzeitigkeit zwischen der Stabilität des internationalen Staatensystems und der internen Dynamik der Gesellschaftssysteme Afrikas im 20. und 21. Jahrhundert.

Politisch, nicht ethnisch

Die Frage ist nun: sind die vorkolonialen afrikanischen Staaten auf dem Wege zu umfassenden Staatensystemen gewesen, als die Kolonialmächte ihre Interessenzonen durch Grenzlinien in dem Hinterland der Küstenzonen festlegten? Welcher Prozess ist durch die koloniale Aufteilung unterbunden worden? Unabhängig davon, wie alt die staatlichen Traditionen in den verschiedenen afrikanischen Gesellschaften sind, dürfte es schwer fallen, politische Systeme in Afrika aufzuspüren, deren Einflusszonen, Tributbeziehungen und Dynastien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert unter dem Druck der historischen Verhältnisse nicht grundlegend verändert wurden. Sie alle wandelten sich unter dem Druck des Sklavenhandels, des Fernhandels, der politischen Explosion im südlichen Afrika, für das als Symbol der Zulukönig Shaka steht, der Erneuerung des Islams in Westafrika, der Reichsbildung Äthiopiens, des Mahdismus im Sudan, des Sansibar-Reiches in Ostafrika oder der Expansion des Baganda-Staates nördlich des Victoria-Sees. Keines dieser Systeme, keiner dieser Staaten ist jedoch vom Kolonialismus zerrissen worden. Sie sind – mit wenigen Ausnahmen wie z.B. Sansibar – auch nach den militärischen Niederlagen am Ende des 19. Jahrhunderts als Ganzes zum Bestandteil größerer Kolonien geworden.

Die spezifische Geschichte dieser Staatlichkeit und der Inkorporation vorkolonialer politischer Einheiten in einen neuen kolonialen Flächenstaat scheint von viel tiefer greifender Bedeutung für die Funktions(un)fähigkeit der postkolonialen Staaten Afrikas zu sein, als die oft willkürlich gezogenen Grenzen der Kolonien. Dies zeigt sich beispielsweise in der Bedeutung der Erben des nordnigerianischen Sultanats für die Machtverteilung in Nigeria, in der Baganda-Hegemonie für Uganda oder in der Tradition des mahdistischen Staates im Sudan – die bis heute den Umgang mit seiner Peripherie nicht nur des Südens, sondern auch des Darfur im Westen bestimmt.

Wie die Reiche der vormodernen Welt waren auch sämtliche vorkolonialen Staaten ‚Viel-Völker-Gebilde’, wenn auch meist mit hegemonialer Struktur. Diese Staaten oder politischen Koalitionen waren hinsichtlich Umfang und Art der Inkorporation von anderen politischen Einheiten höchst flexibel, etwa durch Tributbeziehungen, Übernahme der monarchischen Spitze, durch das Regiment von Königsboten, strategische Heiraten oder die gegenseitige Respektierung religiöser Kulte. Darüber hinaus kamen Sezessionen in Zeiten politischer Schwäche häufig vor. So nutzten beispielsweise starke Clans und Hafenvorsteher im alten Königreich Kongo bereits im 17. Jahrhundert ihren Zugang zu den europäischen Sklavenhändlern, um sich politisch vom Königtum selbstständig zu machen.

Zugespitzt lässt sich daher sagen, dass diese vorkolonialen Staatsbildungsprozesse des späten 18. und des 19. Jahrhunderts viele Gruppen zwangen, von losen Clan-Föderationen und einem oft schwach ausgebildeten politischen ‚Häuptlings’- oder Adelswesen zu politisch zentralisierten Einheiten überzugehen, wenngleich diese auch oft klein waren. Die Ausbildung des ‘Chiefdoms’ in seiner modernen Form ist also ein relativ neues Phänomen. Die angeblich so bestimmende ethnische Identität afrikanischer Gesellschaften definiert sich real danach, welchem Chief man politisch zugeordnet ist. Diese politischen Identitäten bilden sich eher vor dem Hintergrund bestimmter vager kultureller Gemeinsamkeiten aus als aufgrund ethnischer. Zudem konnten und können sich diese Zuordnungen und Identitäten schnell wandeln. Insofern haben die kolonialen Grenzen die Einheiten afrikanischer Gesellschaften selten zerrissen, sondern diese nurmehr manipuliert. Sie haben Usurpatoren Machtmöglichkeiten gegeben oder etablierten Gruppen Anpassungsstrategien an den neuen Kolonialstaat nahe gelegt, wobei es oft zu neuen Traditionsbildungen kam.

Postkoloniale Schwäche

Trotz seines realen Einflusses hat der koloniale Staat zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg nicht die Durchsetzungskraft gehabt, diese dynamischen innerafrikanischen Verhältnisse grundlegend zu ändern. Grenzüberschreitende Weidewirtschaft und Fluchtbewegungen vor Hunger- und Dürrekatastrophen sowie grenzüberschreitender Handel waren im kolonialen Afrika gang und gäbe. Die Grenzen der Mobilität wurden nicht durch Sperren im Grenzverkehr und damit durch politische Maßnahmen erreicht, vielmehr resultierten sie aus den Erfordernissen der kommerziellen Waren- und Verkehrsströme. Selbst der Aufstieg in die koloniale Bildungselite war grenzüberschreitend möglich. Entsprechend wurden für die afrikanischen Bildungs- und politischen Eliten weniger die Staatsgrenzen relevant als vielmehr die Sprachgrenzen zwischen englisch, französisch und portugiesisch.

In der Periode des entwickelten Kolonialismus, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, haben die kolonialen Grenzen allerdings erheblich an Bedeutung gewonnen. Dies betrifft vor allem die Ursachen regionaler Disparitäten: die Polarisierung zwischen marginalisierten und weltmarktnahen Regionen und die Ausbildung der (afrikanischen) Metropolen. Der antikoloniale Unabhängigkeitskampf, der Kampf um Ressourcen, die Handhabung des Landrechts, die Investitionen in die Infrastruktur und die Ausbildung der politischen Klientelsysteme fanden innerhalb der kolonialen Grenzen statt, und diese wurden und werden von der nationalen postkolonialen Elite verteidigt und zementiert. Auch die lokalen Eliten verlang(t)en im Falle von regionaler Benachteiligung eher nach Zugriff auf die (Binnen-) Metropole denn nach Sezession.

Die heute oftmals zu beobachtende Revitalisierung von politischer Ethnizität sowie die Betonung monarchischer Traditionen nach rund drei Jahrzehnten Unabhängigkeit sind vor diesem Hintergrund nicht Antworten auf alte Grenzprobleme, sondern auf die Schwäche vieler postkolonialer Staaten, auf die in ihnen stattfindenden ungerechten Akkumulationsprozesse und auf die damit verbundene Enttäuschung. Dieses Argument wird auch nicht dadurch aufgehoben, dass nach der Dekolonisierung immer wieder grenzüberschreitende Interventionen – etwa bei vielen Bürgerkriegen – festzustellen sind. Sowohl Befreiungsbewegungen als auch Warlords oder Schmuggler benötigen sichere Rückzugsräume. Das gleiche gilt für die grundsätzlich grenzüberschreitende Wirkung der Militarisierung von Flüchtlings- und Nothilfe und sogar für Siedlungsfragen. Aus der Flüchtlingsforschung ist bekannt, dass für ca. 80 Prozent der Langzeitflüchtlinge in ihren neuen Aufenthaltsländern Landnutzung möglich ist und diese auf die nächste Generation übergeht. Strittige Landfragen im Kontext von Migration sind aber eher interne Machtfragen denn zwischenstaatliche Probleme.

Ein unübersichtliches Erbe

Trotz der künstlichen Kolonialgrenzen ist es also sehr unwahrscheinlich, dass in Afrika Re-Vitalisierungen vorkolonialer Staatsgebilde stattfinden werden, wie dies etwa nach der Auflösung der formal stark föderativen Union der Sowjetrepubliken in der Ukraine, in den baltischen Staaten und in den mittelasiatischen Republiken möglich war. Die Kolonialgrenzen sind im Großen und Ganzen zu historisch relevanten Grenzen geworden. Selbstverständlich gab und gibt es auch in Afrika wie in den übrigen Weltregionen politisch-historische Konstellationen, in denen neue politische Identität entsteht und in denen die Suche nach einem eigenen politischen System forciert wird. Die Entwicklung in Eritrea und seine Ablösung aus dem Groß-Äthiopischen Reich war ein solcher Fall. Und in der Zukunft wäre die Auflösung Nigerias in Großregionen durchaus möglich, Alleingänge mineralölreicher Enklaven sind dort nicht auszuschließen. Historisch-traditionalistische Begründungen werden solche Prozesse begleiten, und sie werden insbesondere auch die vorkoloniale Geschichte in Anspruch nehmen.

All dies hat aber nichts mit der Legendenbildung über eine angeblich überhistorisch wirkende afrikanische ethnische Identität zu tun und noch weniger mit der tatsächlichen Willkür kolonialer Grenzen. Diese haben sicherlich Entwicklungen umgelenkt, behindert, neue regionale Identitäten produziert und Verlierer des Kolonialismus verursacht. Das Grundübel liegt aber weniger in der Grenzziehung, als vielmehr in den (Unter-) Entwicklungsprozessen des kolonialen und postkolonialen Staates. Für dieses unübersichtliche Erbe des Kolonialismus und für seine Auswirkungen auf die Eliten Afrikas sollte die Berliner Kongokonferenz von 1884-1885 als Symbol stehen, nicht für die Grenzziehung.


Siehe auch die Pressedokumentation zur Afrika-Konferenz in der Rubrik Presse (dieser Zeitabschnitt wird noch ausgebaut):

1884

  • Die Congo-Konferenz in Berlin; französich-chinesischer Krieg, Freiburger Zeitung, 20.10.1884, Artikel
  • Die bevorstehende Congo-Konferenz in Berlin; die französich-chinesische "Tonking-Frage", Freiburger Zeitung, 23.10.1884, Artikel
  • Der Niger und die Congo-Konferenz in Berlin, Freiburger Zeitung, 24.10.1884, Artikel
  • Thronrede in England zum Sudan, zu Ägypten und anderen Kolonialreichen; Congo-Konferenz in Berlin, Freiburger Zeitung, 25.10.1884, Artikel