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Veröffentlicht auf freiburg-postkolonial.de am 02.10.2017

 

 

 

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Rezension von:

 

Reinhart Kößler / Henning Melber:

Völkermord - und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung (2017)

Eine „entschädigungsrelevante Entschuldigung“ werde es nicht geben, ließ Außenminister Joseph Fischer im Jahr 2003 bei einer Stippvisite in Windhoek, der Hauptstadt Namibias, verlautbaren. Der Grünen-Politiker, von dem sich viele mehr erhofft hatten, weigerte sich die Dinge beim Namen zu nennen. Wie dies schon die Praxis der allermeisten Politiker vor und nach ihm war, sollte unter allen Umständen verhindert werden, durch eine Anerkennung der vom deutschen Kaiserreich in der vormaligen Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ (DSWA) verübten Verbrechen den Weg für Reparationszahlungen zu ebnen. Der oberste deutsche Diplomat hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als den Vernichtungskrieg der deutschen Schutztruppen gegen die Ovaherero (Herero) und Nama während der Jahre 1904 bis 1908 als das zu bezeichnen was er war, einen Völkermord.

Aus der Reihe der Politiker ließe sich etwa auch der damalige Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Hans Klein (CSU) zitieren. Während einer Bundestagsdebatte im Februar 1989 unterstellte er all jenen eine “hemmungslose Diffamierung“ der deutschen Kolonialepoche, die das Kriegsgeschehen in DSWA als Völkermord bewerten.

Die Geschichte der Tabuisierung des Genozids reicht viele Jahre zurück. Aber es war keinesfalls nur die offizielle Politik, die sich hierbei in unrühmlicher Weise hervortat. Auch Wissenschaftler, Publizisten oder Journalisten veröffentlichten Artikel und Bücher, die bewusst oder unbewusst der Kolonialapologetik das Wort redeten. Zu den heute vergessenen Fällen gehört Hans Germani mit seinem 1982 erschienenen Buch „Rettet Südwest“. Der Historiker und zeitweilige Korrespondent des Magazins „Der Spiegel“ wies die Völkermord-These, die eigentlich schon damals ein von der seriösen Historiographie abgesicherter Befund war, mit einem Federstrich vom Tisch. Das deutsche Kaiserreich habe keine „Ausrottungspolitik“ betrieben, für ihn eine „der größten Lügen über die deutsche Kolonialzeit“. Zu allem Überfluss tat sich Germani auch noch dadurch hervor, gegen die Dekolonisation des afrikanischen Kontinents zu wettern. Richtet man den Blick in die Leserbriefspalten der Tageszeitungen, so findet sich dort manches Pamphlet, das solchen Machwerken zur Seite gestellt werden kann. Erwähnenswert ist jener Mitte November 2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckte Leserbrief, in dem von der „Schwarzen Legende vom Herero-Genozid“ schwadroniert wird. Hierzulande sind solcherart Äußerungen von der Meinungsfreiheit gedeckt und werden nicht von der Justiz verfolgt, wohingegen die Leugnung der Verbrechen im KZ Auschwitz in der Bundesrepublik einen Straftatbestand darstellt.

In dem neuen Buch von Reinhart Kößler und Henning Melber wird dieses Kapitel der deutschen Kolonialherrschaft, das bis heute das Verhältnis zwischen Namibia und Deutschland belastet, eingehend unter die Lupe genommen. Als „Schutz des deutschen Selbst- und Geschichtsbildes“ (Ulrich Roos / Timo Seidl) deuten die Autoren d ie Relativierung, Verharmlosung bis hin zur regelrechten Leugnung des deutschen Genozids im ehemaligen Südwestafrika. Das Autorenpaar braucht eigentlich nicht eingehender vorgestellt werden. Durch ihre zahlreichen, in den vergangenen mehr als drei Jahrzehnten erschienenen Publikationen sind sie wie wenige andere mit der Thematik vertraut. Beide sind mittlerweile emeritierte Wissenschaftler und können auf viele Forschungsaufenthalte und lange Arbeitsjahre in Namibia zurückschauen. Was sie auszeichnet, ist ihre Doppelrolle als (renommierte) Wissenschaftler einerseits und Aktivisten andererseits. Heidemarie Wieczorek-Zeul, ehemals Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, steuerte ein Vorwort zu dem Band bei. Sie erwarb sich einst Meriten durch ihre mutige Rede im August 2004 anlässlich des 100. Gedenktages des von den deutschen Kolonialtruppen begangenen Genozids. Sie bat damals auf Ohamakari in der Nähe des Waterbergs, dort wo im August 1904 die Schlacht zwischen Deutschen und Herero stattfand, „um Vergebung unserer Schuld“ und scheute sich auch nicht, das V-Wort zu verwenden. Wie in dem Buch nachzulesen ist, spekulierte sie anschließend darüber, ob das nun das Ende ihrer Ministerzeit bedeuten würde. Dazu sollte es nicht kommen, aber das politische Berlin beeilte sich festzustellen, es handele sich hierbei um die Einzelmeinung der Ressortchefin, nicht aber um den offiziellen Standpunkt der Regierungskoalition.

Der Band von Kößler/Melber ist in fünf Kapitel gegliedert. Im ersten wird die (Vor-)Geschichte des Kolonialkrieges abgehandelt. Die wichtigsten Forschungsdebatten werden vorgestellt und etwa die Frage angesprochen, warum es unzulässig ist, von einem „normalen Kolonialkrieg“ zu sprechen. Das militärische Vorgehen der Schutztruppen unter General Lothar von Trotha entsprach vielmehr einer totalen Kriegsführung. Der berüchtigte, Anfang Oktober 1904 erlassene sog. Vernichtungsbefehl („Schießbefehl“) und die ihm folgenden Maßnahmen wie die Einrichtung von Konzentrationslagern, Arbeitszwang, Enteignung und Rassentrennung erfüllen den Tatbestand des Völkermords. Was die Diskussion um mögliche Kontinuitäten oder Parallelen des deutsch-namibischen Kolonialkrieges zum Holocaust betrifft, so weisen die Autoren eine nahtlose Fortschreibung als zu vordergründig konstruiert zurück, sehen aber durchaus Verbindungslinien. Sie führen unter anderem Christoph Marx an, der 2005 zu bedenken gab: „Nur wenn man Kolonialgeschichte von der ‚deutschen‘ Geschichte trennt, lässt sich der Enklavencharakter des Nationalsozialismus halten“ (S. 37).

Den Standpunkten und Stellungnahmen der offiziellen Regierungspolitik in Deutschland sind die Kapitel 2 und 3 gewidmet. Gezeigt wird, wie die jeweiligen von CDU und SPD geführten Bundesregierungen in den vergangenen rund drei Jahrzehnten sich mit dieser „geteilten“ deutsch-namibischen Geschichte befasst haben. Dies geschah wie bereits angedeutet meist gar nicht und wenn, dann nur halbherzig. Die auf der turnusmäßigen Regierungspressekonferenz am 10. Juli 2015 vom Sprecher des Auswärtigen Amtes auf Nachfrage der Journalisten bekannt gegebene Sprachregelung, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) würde nunmehr die Ereignisse in der einstigen deutschen Kolonie als Völkermord bezeichnen, betrachten Kößler/Melber indes nicht als wirklichen Durchbruch in der Sache. Dies treffe auch nicht für den von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) im Juli 2015 publizierten Zeitungsartikel zu, in dem es heißt: „Wer in der Bundesrepublik vom Armenier-Genozid spricht, darf vom deutschen Völkermord an den Herero und Nama nicht schweigen.“

Im Bundestag war zuvor anlässlich des Gedenkens an den Armenier-Genozid über eine Resolution debattiert worden, deren Verabschiedung schließlich ein Jahr später erfolgte. Lammert knüpfte mit seinem Artikel an Altbundespräsident Horst Köhler (CDU) an, der bereits im Jahr zuvor den Völkermord-Begriff in einer Rede verwendet hatte. Für Kößler/Melber stellen alle diese Schritte bestenfalls Etappen eines schwierigen Prozesses dar. Nach ihrer Auffassung sind auch die Ende 2015 aufgenommenen bilateralen Verhandlungen zwischen beiden Staaten mittlerweile festgefahren oder gar gescheitert. Zurecht kritisieren sie die Bundesregierung dafür, dass sie die Ausformulierung der überfälligen Entschuldigung gegenüber den - bisher von den Verhandlungen zwischen Berlin und Windhoek ausgeschlossenen - Opfergruppen zum Gegenstand statt zum Ausgangspunkt der Beratungen gemacht hat. Problematisch ist gleichermaßen, dass die Bundesregierung die Entschuldigung als politisch-moralische Verpflichtung versteht, die mithin keine juristischen Konsequenzen habe und keine Reparationennach sich ziehen würde.

Die Reaktion der Herero- und Nama-Verbände ließ nicht lange auf sich warten. Sie machten deutlich, man werde eine solche - billige - Entschuldigung nicht akzeptieren. Nicht zuletzt aus diesem Grund reichten deren Vertreter Anfang Januar 2017 vor einem US-Gericht in New York eine entsprechende Sammelklage gegen die Bundesregierung in Berlin ein.

„Fakten und Mythen“ lautet die Überschrift des vierten Kapitels. Im Mittelpunkt steht hier ein Artikel, den der Journalist Bartholomäus Grill unter dem Titel „Gewisse Ungewissheiten“ im Spiegel (24/2016) veröffentlichte. Der Artikel, der scharfe Proteste provozierte, stellt ein Lehrstück dafür dar, mit welcher Nachlässigkeit die deutsch-namibische Geschichte im Diskurs der bundesrepublikanischen Gesellschaft auch heute noch „misshandelt“ wird und dies in einem Leitmedium der deutschen Presselandschaft. Grill hatte in seinem Bericht Hinrich Schneider-Waterberg , einem deutschsprachigen Farmer aus Namibia, eine Bühne für dessen krude Thesen gegeben. Seit Jahr und Tag leugnet Schneider-Waterberg den Völkermord an den Herero und den Nama. Wie ein so angesehener Afrika-Experte, der einst zum Afrika-Beraterkreis von Ex-Bundespräsident Köhler gehörte, dem „Hobby-Historiker“ (wie Schneider-Waterberg sich selbst nennt) auf den Leim gehen konnte, bleibt unverständlich. Es blieb der verheerende Eindruck, als wollten Grill und mit ihm der Spiegel die gerade aufgenommenen bilateralen Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia torpedieren.

Auch andere Autoren aus Namibia finden Erwähnung, so Brigitte Lau, einst Leiterin des Windhoeker Nationalarchivs. Lau gehört ebenfalls zu denjenigen, die die Bewertung der kriegerischen Ereignisse auf dem Territorium von DSWA als Völkermord ablehnten. Nach ihrem Dafürhalten hätten die Herero nach dem 11. August 1904 mit ihrem Ausbruch in die Omaheke-Halbwüste einen „heroischen kollektiven Selbstmord oder Völker-Selbstmord“ begangenen. Mit einer solchen - nur aberwitzig zu nennenden - These fiel sie weit hinter ihre Bedeutung als Historikerin zurück, hatte sie sich doch große Verdienste um die Erforschung der Vorgeschichte des kolonialen Namibias erworben. Jedenfalls ist sie nicht zu der rechtslastigen Gruppe von notorischen Genozid-Leugnern und Revisionisten zu zählen, von denen sie später gerne vereinnahmt wurde.

Im abschließenden fünften Kapitel, das mit „Völkerverständigung als Dekolonisierung“ überschrieben ist, wird eine aktive Versöhnungspolitik und -kultur eingefordert. Schließlich sei auch Deutschland ein „postkoloniales Land“, das sich dieser Aufgabe zu stellen habe. Als Vorreiter einer konstruktiven Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands stellen die Autoren die Aktivitäten der in den letzten Jahren in vielen Städten gegründeten postkolonialen Initiativen vor, welche der „kolonialen Amnesie“ entgegenzuwirken versuchen. Ob es eine solche koloniale Amnesie nach 1945 in Deutschland tatsächlich gegeben hat, ist allerdings umstritten und zuletzt von Britta Schilling zurückgewiesen worden (Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation, Oxford 2014). Statt einer Amnesie, so Schilling, müsse eher von einer "post-kolonialen Abstinenz“ gesprochen werden.

Die postkolonialen Aktivist/innen arbeiten mit den Herero und Nama und anderen Opfergruppen zusammen, um deren Anliegen zu unterstützen, wozu etwa die Forderung nach Rückgabe menschlicher Gebeine aus den ehemaligen Kolonien des Deutschen Reiches gehört. Darüber hinaus seien weitergehende Anstrengungen für ein postkoloniales Lernen in Bildung, Schule, Forschung und Museen unabdingbar. Die kolonialhistorische Ausstellung, die zur Jahreswende 2016/2017 im Deutschen Historischen Museum gezeigt wurde, weise in die richtige Richtung. Das laufende Projekt des Berliner Humboldt-Forums sehen Kößler/Melber mit großen Vorbehalten. In der bisher bekanntgewordenen Form drohe es eher zu einem „Ort für Exotik“ zu werden, als „Denk- und Erfahrungsschule einer demokratischen Weltgesellschaft“. Angemahnt wird, auch den Stimmen der Schwarzen Community in der Stadt Berlin und in Deutschland Gehör zu verschaffen. Bezüglich der zivilgesellschaftlichen Akteure grenzen sich die beiden Autoren aber auch klar von solchen Vereinigungen wie der Deutsch-Namibischen Gesellschaft (DNG) ab, der ein „stark karitatives Profil“ attestiert wird. Die DNG reproduziere dadurch die postkoloniale Beziehung unhinterfragt wie sie durch den Verzicht auf explizit politische Aussagen dazu beigetragen habe, die jeweils in Deutschland vorherrschende offizielle, will heißen hinhaltende Position zu bestärken. Ein durchaus nicht unberechtigtes, aber doch harsches Urteil, über das sich im Einzelnen streiten ließe.

Dies alles wird kompetent und mit intimsten Einblicken in die (Forschungs-)Debatten ausgebreitet. Selbst der Kenner kann hier noch manchen neuen Aspekt entdecken. Gibt es etwas zu monieren an dem Buch? Wenn ja, dann hätte man sich eine noch eingehendere Darstellung der postkolonialen Aktivitäten im heutigen Deutschland gewünscht. Dieses Kapitel ist in manchen Teilen zu flüchtig ausgefallen. Die Ausführungen sind eher kursorisch gehalten, die hier spärlich angegebene Literatur ist - abgesehen von den Internetlinks - häufig nicht auf dem aktuellen Stand. Eine ebenso klare Stellungnahme wie an anderer Stelle wäre angebracht gewesen und zwar dort, wo es um postkoloniale Projektarbeit geht.

Die Situation in Hamburg und Freiburg vergleichend, werfen Kößler/Melber die Frage auf, ob es gelingen werde, „das lokal jeweils rege zivilgesellschaftliche Engagement mit dem institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb zu vereinbaren, in den die verfügbaren Ressourcen geleitet wurden“ (S. 131). Das versteht nur derjenige, der die Auseinandersetzungen insbesondere in der Hansestadt verfolgt hat. Dort erfährt die an der Hamburger Universität eingerichtete Forschungsstelle „Hamburgs Postkoloniales Erbe“ eine großzügige Förderung durch den Senat. Die zivilgesellschaftlichen Gruppen wie der schon seit langem bestehende „Arbeitskreis Hamburg Postkolonial“ oder die Gruppierungen der People of Colour gingen leer aus. Der Arbeitskreis kritisierte deshalb die Senatspläne in scharfer Form als „Top-down-Modell“ (taz, 8.8.2017). In Freiburg mussten einige Jahre zivilgesellschaftlichen Engagements vergehen, bis die Kommunalpolitik bereit war, sich erstmals mit dem Thema zu befassen. Dann wurde die örtliche Pädagogische Hochschule mit der Erstellung eines Forschungsberichtes zu „Freiburg im Kolonialismus“ beauftragt. Von dieser Seite wurde jedoch der Vertreter des Projektes freiburg-postkolonial in die Erarbeitung einbezogen und es kam zu einer sehr konstruktiven Zusammenarbeit. Der gemeinsam erstellte umfangreiche Bericht liegt nun seit fast einem Jahr bei der Verwaltung und harrt der Veröffentlichung. Davon abgesehen hätten Kößler/Melber die Stadt München als ein positives Gegenbeispiel ins Feld führen können. Dort initiierten Aktivist/innen das Projekt „Decolonize München“, das 2013 mit einer Ausstellung im Münchner Stadtmuseum aufwarten konnte.

Es wird gerne übergangen, aber in postkolonialen Kreisen herrscht teilweise eine erbitterte Konkurrenz um Posten und Fördergelder und um immaterielle Ressourcen wie mediale Aufmerksamkeit und Deutungsmacht, obwohl sie sich doch die Entmachtung (neo)kolonialer Strukturen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Wie auch immer, das Buch ist explizit „an uns Deutsche“ adressiert. Man wird sehen, ob die Impulse zur notwendigen „Dekolonisation der Kolonisierer“ (Jürgen Osterhammel) von der Politik und Öffentlichkeit aufgegriffen werden.

Joachim Zeller

Reinhart Kößler / Henning Melber: Völkermord - und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung, Brandes & Apsel, Frankfurt 2017, ISBN 978-3-95558-193-0

Siehe zum Buch auch die Rezension von Christian Stock in iz3w Nr. 361 (Jul./Aug. 2017)

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