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Deutschland, Kolonialismus und postkoloniale Debatten

Über die Freiburger Schädelsammlung und die Rückgabe von Kulturgütern

Heft-Editorial der Zeitschrift iz3w, Nr. 307 - Juli / August 2008, S. 3

siehe auch zum Thema:

Bochtler, Anja: Relikte aus der Kolonialgeschichte - Schädel im Uniarchiv, Dokumente im Adelhausermuseum — wird, was in Freiburg lagert, irgendwann an Namibia zurückgegeben? Mehr (pdf, BZ vom 15.08.08, S. 19)

Berger, Tanja: Räuber, Retter und Gelehrte - Die Debatte um die Rückgabe geraubter Kulturgüter (2001), Zum Text

Seidler, Christoph: »Opfer ihrer Erregungen« - Die deutsche Ethnologie und der Kolonialismus (2004) Zum Text

Wegmann, Heiko: Freiburg und der Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika Theodor Leutwein (2006) Zum Text

Namibia-Themenschwerpunkt in iz3w Nr. 300: Altlasten - Namibias langer Weg in die Unabhängigkeit (2007) Mehr

Kößler, Reinhart: Dringender Klärungsbedarf - Das Gedenkjahr 2004 zeigt die Verwerfungen der post-kolonialen Gesellschaft in Namibia (2005) Zum Text


Radiosendung von freiburg-postkolonial und RDL zum Thema:

Kolonialismus, Ethnologie & der Raub von Kulturgütern

Die ganze Sendung (mit Moderation, 30:05 Min., 28 MB, Erstsendetermin 27.02.07) Anhören

Einzelne Teile:

Zum Verhältnis von Kolonialismus und Ethnologie - Interview mit Christoph Seidler (8:48 Min., 8 MB) Anhören

Das Adelhausermuseum in Freiburg – Kulturgüter der Kolonialzeit aus Ozeanien (9:05 Min., 8,3 MB) Anhören

Interview mit Lena Blosat von CulturCooperation Hamburg über die Kampagne „Nofretete geht auf Reisen“ (9:55 Min., 11,3 MB) Anhören


 

 

 

Editorial | Geteilte Geschichte, geraubte Erinnerung

Die Rückgabe von geraubten Kulturgütern ist in den letzten Jahren zu einem internationalen Politikum geworden. Immer mehr Staaten und Institutionen erheben öffentlichkeitswirksam Forderungen danach. Nicht immer sind sie berechtigt, wie im Falle der deutschen Bundesregierung, die von Russland vehement die Rückgabe so genannter "Beutekunst" aus dem Zweiten Weltkrieg verlangt. Die Forderungen ehemals kolonisierter Staaten sind aber in der Regel sehr legitim, etwa wenn Ägypten von Deutschland die Rückgabe - oder zumindest Ausleihung - der Büste der "bekanntesten Berlinerin", Nofretete, erwartet. Doch hier will Deutschland wundersamer Weise nicht von Beutekunst reden. Anders handelte Italien, als es 2005 den Obelisken von Axum zurückgab, den die italienischen Faschisten 1937 nach der Niederkämpfung Abessiniens raubten. Er steht am Originalort im heutigen Äthiopien kurz vor der Wiederaufrichtung. Freilich hatte es auch hier Jahrzehnte gedauert, bis es nach unermüdlichen Forderungen auf der einen und Blockaden auf der anderen Seite zu dieser historischen Gerechtigkeit kam.

Der Umgang mit geraubten Kulturgütern - und noch mehr mit menschlichen Körperteilen - ist auch auf lokaler Ebene bedeutsam. Beispiel Freiburg: Nicht anders als in anderen deutschen Städten zeigt ein Blick in die Bestände der Museen sowie anthropologischen Sammlungen, wie verwoben die Kulturgeschichte mit den Überseegebieten und besonders den deutschen Kolonien ist. Kaufleute, Missionare, Mediziner, Beamte und Soldaten sammelten, was das Zeug hielt, oft unter höchst fragwürdigen Bedingungen. So beschreibt der bekannte Anatom und Rasseforscher Eugen Fischer 1959 in seinem Band "Begegnungen mit Toten", wie er 1908 in Deutsch-Südwestafrika Gräber der Nama ausbuddelte, um die Schädelsammlung der Freiburger Universität zu bestücken. Sein Motto: Das stört hier doch niemanden.

Die Ursprünge dieser Schädelsammlung gehen weit ins 19. Jahrhundert zurück, als im Jahre 1810 ein Afrikaner in Freiburg an Tuberkulose starb und er sogleich vom amtierenden Anatomie-Professor skelettiert wurde. Sein Schädel bildete u.a. zusammen mit so genannten "Chinesen-Schädeln" den Grundstein der 1850 gegründeten Sammlung. Zum Ausbau steuerte 1878 der Freiburger Friedrich Rosset eine Reihe Schädel aus dem Sudan bei. Er war gerade zum Zivilgouverneur des von Ägypten eroberten Darfur ernannt worden. An der Freiburger Schädelsammlung betrieben Generationen von Medizinern und Anthropologen ihre Forschungen. Verliefen Anfragen von Aboriginal-Organisationen an die Universität früher im Sande, so zeigt sich eine offene Haltung, seit die Sammlung im Uni-Archiv lagert. An der Aufarbeitung der Sammlungsgeschichte will das iz3w-Projekt www.freiburg-postkolonial.de künftig mitarbeiten.

Ein Erfolg der bewussteren lokalen Geschichtspolitik war zu vermelden, als die Namibierin Ellen Ndeshi Namhila am 13. Mai 2008 in Freiburg digitalisierte Dokumente aus der deutschen Kolonialzeit überreicht bekam. Sie war als Vertreterin des "Archivs des anti-kolonialen Widerstands- und Befreiungskampfes" (AACRLS) hierher gereist. Bei den Dokumenten handelt es sich um einen Teil-Nachlass des Kolonialoffiziers Kurd Schwabe aus den Jahren 1894 bis 1896. Dessen Schwiegertochter hatte sie 1995 dem Freiburger Adelhausermuseum übergeben. Enthalten sind unter anderem Brieffragmente des namibischen Nationalhelden Hendrik Witbooi. Die an der Übergabe beteiligten Organisationen, neben dem Museum und dem namibischen Nationalarchiv auch www.freiburg.postkolonial.de, das deutsche AACRLS-Komitee und der Mopane-Fonds, streben nun die Überführung des gesamten Nachlasses nach Namibia an.

Warum solche Rückgaben von so großer Bedeutung sind, verdeutlichte Namhila gegenüber der Badischen Zeitung: "Wir in Namibia haben zwar eine Vergangenheit, aber sie wurde uns geraubt. Vor dem Kolonialismus gab es viele Aufzeichnungen, doch alles, was wir hatten, wurde zerstört. Unsere Dörfer wurden niedergebrannt. Später während des Kolonialismus konnten die afrikanischen Menschen nichts Eigenes schaffen. Sie lebten ausschließlich unter der Kontrolle der Kolonialisten und waren keine Bürger mit Rechten. Jetzt kämpfen wir darum, unsere Vergangenheit wieder zu finden." Dazu forderte Namhila die deutsche Bevölkerung zur Mithilfe auf: "Während des Kolonialismus waren mehr als 15.000 deutsche Offiziere und Soldaten in Namibia. Von den meisten muss es Briefe, Tagebücher, Fotos geben. Ich appelliere an alle, deren Familien solche Dokumente haben, sie uns zur Verfügung zu stellen. Das würde uns helfen, das Puzzle unserer Vergangenheit zusammenzufügen. Es geht uns nicht darum, zu richten. Es geht uns um unsere Geschichte."

Auf geht's, ab in die Speicher, Keller und Archive!

die redaktion


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Inhalt der Ausgabe 307 der Zeitschrift iz3w

Politik und Ökonomie

Heft - Editorial   S. 3

Postkolonialismus: Mutige Großeltern  S. 4
In Tansania wird an den antikolonialen Maji Maji-Krieg erinnert | von Jochen Lingelbach

Rassismus: Mobile Grenzen    S. 6
Lampedusa und die italienisch-europäische Flüchtlingspolitik | von Anna Voigt

Peru: "Sie steuern unsere Wirtschaft"   S.8
Interview mit Romulo Torres Seoane über die Auswirkungen der Krise in den USA

Lateinamerika: Gewehr bei Fuß  S. 10
Der Kleinwaffenhandel in Lateinamerika führt zu massiver Unterentwicklung | von Rachel Stohl und Doug Tuttle

Migration: Gleichzeitig Vater und Mutter   S. 14
Migration von El Salvador in die USA und ihre Auswirkungen auf die Geschlechter | von Eva Bahl

Kultur und Debatte

Film: Mission possible in Nollywood   S. 17
von Lena Blaudez

Nachruf: Mit Frankreich gegen Frankreich     S. 18
Der antikoloniale Poet und Politiker Aimé Césaire | von Andreas Eckert

Frankreich: "Ich zähle auf Sie"     S. 19
Präsident Sarkozy betreibt eine Politik des regressiven Multikulturalismus | von Tilman Vog
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Kolonialismus: Die Welt im Ton     S. 22
In deutschen Sonderlagern für Kolonialsoldaten entstanden ab 1915 einzigartige Aufnahmen | von Britta Lange

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet   S. 26 ff.

Dossier: Menschenrechte

Editorial  III


Alle gehören dazu  IV
Vom philosophischen Universalismus zur politischen Universalisierung der Menschenrechte | von Arnd Pollmann

Ideologiekritik oder praktische Anwendung - Eine Kontroverse    V
Zur Perspektivlosigkeit (materialistischer) Menschenrechtspolitik | von Simon Birnbaum
Menschenrechte sind unteilbar | von Rolf Künnemann

Propagandainstrument Menschenrecht  XI
Tibets feudalistisches Erbe | von Colin Goldner

Wie kommen die Menschenrechte zu den Frauen?   XIV
Das Beispiel der weiblichen Genitalverstümmelung | von Senta Möller

Privileg, Recht oder Verpflichtung?  XVIII
Fallstricke des rechtsbasierten Entwicklungsansatzes | von Srilatha Batliwala

"Bangladesch ist ein Land im Übergang"  XX
Interview mit der bengalischen Menschenrechtsaktivistin Sultana Kamal über die Politik der Übergangsregierung

Welche Pädagogik brauchen Menschenrechte?    XXII
Ein Plädoyer für Menschenrechtsbildung mit emanzipatorischer Perspektive | von Albert Scherr

In eigener Sache   XXIV
Die neue AG Bildung stellt sich vor

"Zu begreifen, wie viel man selbst in der Welt bewirken kann"  XXVI
Youth on the World - Ein internationales Begegnungsprojekt an Schulen, Unis und in den Medien | von Heidrun Schmitt

Rezensionen    XXVI

Links - Literatur - Materialien    XXVII


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